Ausbauhaus Südkreuz, Berlin
Papier ist nicht nur geduldig, sondern erlaubt auch die bestmöglichen Ergebnisse. Wie wir idealerweise bauen, ist auf solchen Papieren schon oft genug entworfen worden. Aber dann gibt es da ja noch die Realität mit ihren Verordnungen, Verfügbarkeiten, monetären Zwängen und situativen Herausforderungen. Wie man auf einer Baulücke in dichter Citylage nahe an das Ideal herankommt, haben Praeger Richter in Berlin gezeigt.
Text: Jan Ahrenberg / DBZ
Schulterschluss:
Für das ehemalige Betriebsgelände der Berliner Stadtreinigung kam erstmals in Berlin ein Konzeptverfahren zum Einsatz, bei dem unterschiedliche Akteur:innen ihre Ideen präsentieren konnten
Foto: Lindsay Webb
Westberlin, das war seinerzeit ein – im wahrsten Sinne – eng umgrenztes Gebiet. Wohnen, Arbeiten, Lagern und Logistik, ja, sogar Flughäfen, Autobahnen und Schifffahrtswege drängten sich in vielen Teilen der Stadt auf engstem Raum. Und anders als im Ostteil, der seine große Sanierungswelle der innerstädtischen Lagen erst nach der Wende erlebte, machte man sich im Westen bereits frühzeitig daran, alles aus dem vorhandenen, knappen Boden herauszuholen. Restflächen, die Baugruppen im Laufe der 2000er-Jahre als Gestaltungsspielraum für sich entdeckten, hatten hier meist schon ein Vorleben. Und nicht selten ein industrielles.
Als der Senat 2016 das erste Konzeptverfahren der Stadt für die „Schöneberger Linse“ ausschrieb, hatte auch dieses Areal bereits eine Geschichte. Und eine komplexe Nachbarschaft. Denn das Gelände beheimatete früher nicht nur einen Betriebs- und Recyclinghof der Stadtreinigung BSR, sondern liegt auch zwischen den Bahnhöfen Schöneberg und Südkreuz und wird durch die Ringbahn sowie den Sachsendamm begrenzt. Letzteres ist eine vier- bis sechsspurige Durchgangsstraße, die die Bezirke Schöneberg und Tempelhof miteinander verbindet – mithin den Feierabendverkehr in die südlichen Außenbezirke Berlins ableitet. Nur ein paar Meter weiter donnert die Stadtautobahn A100 nebenher. Radfahrer und Fußgänger sind in diesem Teil der Stadt bis heute eine gefährdete Spezies.
Wertvolle Materialien: Als Dämmung wählten die Planer:innen Naturfasern, die deutlich teurer, aber auch deutlich nachhaltiger sind als die sonst üblichen WDVS
Foto: Lindsay Webb
„Wir haben mit der Baugruppe dennoch den Planungsprozess und die Planung begonnen“, erinnert sich Henri Praeger an die Anfänge des Projekts. „Denn schließlich war das Konzeptverfahren das erste seiner Art in der Stadt und eine spannende Herausforderung für uns, um zu sehen, wie unser Konzept der Einbindung und Beteiligungen der Bauherr:innen in so einer dichten innerstädtischen Lage aufgehen würde.“ Der eigentliche Bauboom unter Baugruppen war zu diesem Zeitpunkt bereits ein wenig abgeflaut, die besten Grundstücke vergeben und das Bauen an sich auch bereits wesentlich teurer als in den Nullerjahren. Das machte die Aufgabe nicht leichter, zumal das Konzeptverfahren Punkte wie die Schaffung sozialen Wohnraums, ökologische Ausrichtung sowie einen Beitrag zur Kiezkultur abfragte. „Dazu muss man verstehen, dass es keine Blaupause gibt, um solch ein Verfahren für sich zu entscheiden“, ergänzt Jana Richter, „wir wurden zwar aufgefordert, zu diesen Punkten Stellung zu beziehen – explizit verlangt wurde die Erfüllung der einzelnen Punkte jedoch nicht.“ Das soll dazu beitragen, dass die Planer:innen ihre Konzepte möglichst frei entwickeln können und dabei zu Lösungen kommen, die die Stadt so noch nicht kennt.
Für den Aufbau der Innenwände kamen 27 mm dicke Holzplatten zum Einsatz, die nach der Nutzung einfach wieder von einander getrennt und weiterverwendet werden können
Foto: Lindsay Webb
Allerdings konnten sich die Beteiligten anhand des Fragenkatalogs schon sehr gut ein Bild davon machen, was gewünscht war. Auch beim Eigentum musste Platz für weniger Begüterte sein. Für einen spekulativen Umgang mit schnell im Wert steigendem neuen Wohnraum war hingegen kein Platz. „Die Situation war ja schon damals so, dass sich der Wert von Wohneinheiten allein durch deren Realisierung quasi über Nacht verdoppelte oder verdreifachte. Da bestand seitens der Verwaltung natürlich die Befürchtung, dass manch einer darin ein lukratives Geschäft wittern könnte.“
Zu der Befürchtung bestand bei der Gruppe, die sich schließlich mit Praeger Richter auf das Abenteuer einließ, allerdings kein Grund. Vielmehr wünschte sie sich eine klare soziale und ökologische Ausrichtung ihres Bauprojekts. Auch ein Eisspeicher wurde anfangs diskutiert, doch angesichts der Gegebenheiten vor Ort schnell fallengelassen. Zu eng die Bebauung, zu ungeeignet der Untergrund. Und auch die Kosten musste die Truppe im Blick behalten, schließlich wollten sie nicht nur ihre eigenen vier Wände finanzieren, sondern auch den Anteil an sozialem Wohnraum im Gebäude sowie die Flächen für Wirtschaftseinheiten im Erdgeschoss, die an kiezorientierte Organisationen oder Unternehmen vermietet werden sollten. Und auch das schmale Handtuch Grün hinter dem Gebäude, das Teil eines noch entstehenden Kiezgartens werden soll, gehörte zu den mitzuverplanenden und mitzufinanzierenden Herausforderungen des Projekts. Schnell stand fest, dass der ökologische Aspekt nicht mit teurer Technik hinzugekauft werden kann, sondern tief in die Grundmauern selbst eingeschrieben werden muss.
Bohren, Nageln, Schrauben: Da beim Aufbau der Wände keine festen Verbindungen geschaffen wurden, ist der gesamte Innenausbau demontierbar, wiederverwendbar oder recyclebar
Foto: Lindsay Webb
„Am ökologischsten gilt ja heute ein reiner Holzbau, aber den hätten wir an diesem Ort nicht oder nur mit sehr großen Zugeständnissen errichten können“, erläutert Jana Richter. Das Problem: Die hohen Anforderungen an Schall- und Brandschutz hätten den Quadratmeterpreis in die Höhe getrieben, ohne im gleichen Maß den ökologischen und sozialen Zielen des Projekts zu dienen. Also überlegten sich die Architekt:innen etwas anderes: Was, wenn man den Anteil Grauer Energie in den einzelnen Bauteilen nach voraussichtlicher Nutzungsdauer sowie Wiederverwendbarkeit gewichtet? „Heraus kam dabei ein Gebäudemodell, das nach drei unterschiedlichen Lebenszyklen unterscheidet: ein kurzlebiger Innenausbau, eine mittelfristig nutzbare Fassade sowie eine städtebauliche Grundstruktur mit langer Lebensdauer“, erklärt Jana Richter. „Geht man davon aus, dass es bei den Innenausbauten im Eigentum circa alle zehn bis 20 Jahre zu Veränderungen kommt, die Fassade aber rund 50 bis 80 Jahre unverändert bestehen kann und das Tragwerk in seiner Struktur 100 Jahre und länger nutzbar ist, wird schnell klar, wo ökologische Materialien und Techniken besonders sinnvoll eingesetzt werden.“
Statt Estrich: Auf die Fußbodenheizung kam eine Holzspanschüttung, dann eine Holzfaserplatte und zum Schluss ein Klickparkett aus geölter Eiche
Foto: Lindsay Webb
Das überzeugte auch die Baugruppe, die die Mehrkosten für den innovativen, im Vergleich zum Trockenbau etwa doppelt so teuren Innenausbau mit 27 mm starken, sortenrein trennbaren, weil verschraubten Holzplatten an Holzständern mittrugen. Beim Boden, einer Konstruktion aus Holzfaserplatte mit Wellpappenrand über Spanschüttung samt Fußbodenheizung und geöltem Eichenklickparkett, musste die Gruppe deutlich tiefer in die Tasche greifen. Sie erhielt dafür aber auch ein Wohnkonzept, das sich relativ leicht dem jeweiligen Bedarf anpassen lässt – ohne allzu sehr auf das ökologische Gewissen zu drücken. Mehr noch: Es erhöht zusätzlich noch den Lebenszyklus des Stahlbetonregals, das, befreit von der Aufgabe, individuelle Grundrisse zuzuordnen, quasi ewig unverändert stehen bleiben kann. Als Wohnhaus, in Mixed-use oder in hundert Jahren vielleicht gewerblich nachgenutzt – wer kann es vorhersehen?
Beton-Holzhybrid: Auch nach dem Ausbau blieb die konstruktive Idee im Gebäude ablesbar
Foto: Lindsay Webb
Auch aktuell hat sich die Gruppe auf eine interessante Mischung verständigt, die nicht nur einen ökologischen, sondern auch einen sozialen Beitrag zum Kiezgefüge leistet: Dreizehn Eigentumswohnungen auf sechs Etagen, eine Gästewohnung mit Zugang zur gemeinschaftlich genutzten Terrasse sowie drei förderfähige Mietwohnungen zwischen 38 und 130 m² thronen über dem 4,50 m hohen Erdgeschoss mit zwei Gewerbeeinheiten, das für die Nutzung durch kiezgebundenes Gewerbe vorgesehen ist. „Anders als bei unseren vorherigen Projekten ist der Grad der Eigenleistung und die Variabilität der Grundrisse hier sicher nicht so hoch“, sagt Henri Praeger (mehr dazu s. S. 52). „Dafür versteht sich das Projekt selbst aber als veränderlicher Stadtbaustein, der kommenden Generationen eine gute und ökologische Basis für neue Aneignungen und Nutzungsänderungen liefert.“ Wenn heute noch der Abriss von Gebäuden wirtschaftlicher scheint als deren Sanierung und Umnutzung, kann das künftig anders aussehen. Denn dank des modularen Ansatzes, bei dem die Nutzung lediglich als Momentaufnahme in einen unveränderlichen Setzkasten gestellt und ebenso einfach wieder herausgenommen wird, ist der Abriss eben von vornherein bereits die unwirtschaftlichere Variante. Einen besseren Bestandsschutz können Architekt:innen kaum planen.
Praeger Richter Architekten
Henri Praeger
www.praegerrichter.de
Foto: privat
Praeger Richter Architekten
Jana Richter
www.praegerrichter.de
Foto: privat
Projektdaten
Objekt: Ausbauhaus Südkreuz
Standort: Gotenstraße 45, 10829 Berlin-Schöneberg
Typologie: Wohngebäude
Einheiten: 18 Wohnungen, 2 kiezgebundene Gewerbeeinheiten, Gästewohnung, Gemeinschaftsgarten
Bauherr/Bauherrin: Baugruppe Südkreuz 86 GbR
Nutzer/Nutzerin: Baugruppe
Architektur: Praeger Richter Architekten, Berlin,
www.praegerrichter.de
Team: Henri Praeger, Jana Richter, Tamara Granda, Philipp Dittus, Paul Zöll, Andreas Friedel, Max Mütsch
Bauzeit: September 2019 – August 2022
Preise: gewonnenes Konzeptverfahren Schöneberger Linse 2019 mit der Baugruppe, 3. Preis, Re-Use am Bau, Ideenwettbewerb der Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz
Konstruktion: Holz-Beton-Hybridbauweise, verbundstofffreie Holzständerwerk Fassade mit vorgehängter Lärchenverschalung, kreislaufgerechter Ausbau aus nachwachsenden Rohstoffen
Projekdaten
Grundstücksgröße: 550 m²
Grundflächenzahl: 0,6
Geschossflächenzahl: 4,0
Nutzfläche gesamt: 2 030 m²
Brutto-Grundfläche: 2 200 m²
Brutto-Rauminhalt: 7 800 m³
Baukosten (nach DIN 276):
Gesamt brutto: 8,2 Mio €
Gesamtkosten pro m² Wohnfläche: 4 550 €/m²
Fachplanung
Projektsteuerung: L.I.S.T. Gmbh Projektsteuerung, Berlin, www.list-gmbh.de,
Müller Rose Projektsteuerung, Berlin,
www.mrp-berlin.de
Tragwerksplanung: Steffen Janitz Ingenieure, Guben
TGA-Planung: PSW Ingenieure, Berlin,
www.psw-tga.de
Akustik: Akustikbüro Moll, Berlin,
www.mollakustik.de
Landschaftsarchitektur: Hutterreimann Landschaftsarchitektur GmbH, Berlin, www.hr-c.net
Energieplanung und -beratung: CLKT Ingenieure, Berlin, www.clkt.de
Brandschutz: Praeger Richter Architekten, Berlin, Ing. Helmuth Bachmann, Berlin
Energie
Energiestandard: KfW Effizienzhaus 40 zertifiziert
Primärenergiebedarf: 2,0 kWh/m²a
Endenergiebedarf: 44,0 kWh/m²a
Jahresheizwärmebedarf: 24,5 kWh/m²a
Energiekonzept:
Als Art der Nutzung erneuerbarer Energien und als Hauptenergie-Träger kommt Wärme aus Biomassekesseln aus fester Biomasse mit einem Anteil von 100 % am Energiebedarf für Heizung und Trinkwasser zum Einsatz. Durch die sehr gut gedämmte Gebäudehülle ergibt sich ein besonders geringer Heizwärmebedarf.