50Hertz-Netzquartier, Berlin
Mit einer vor die thermische Gebäudehülle gestellten netzartigen Tragkonstruktion aus stahlummantelten Betonstützen erreichte das Architekturbüro LOVE architecture aus Graz die gewünschte maximale Freiheit bei der Gestaltung flexibler Büroflächen des Unternehmens 50Hertz.
„Das Konzept ist wie ein Regal zu verstehen, auf dessen Ebenen jede Abteilung ihre individuell optimal angepasste Arbeitswelt umsetzen kann und das von außen durch das Traggerüst aus schräg stehenden Stahlverbundstützen gehalten wird“, erläutert Mark Jenewein, Partner des Büros LOVE architecture and urbanism. Die Anzahl der zusätzlich in den Ebenen anzuordnenden Stützen konnte dadurch stark reduziert werden. Drittes Element des Grundkonzeptes sind, neben dem äußeren Tragwerk und den Geschossflachdecken, drei orangefarbene Betonkerne, von denen zwei leicht schräg verlaufen, so dass sich jedes Geschoss geringfügig vom nächsten unterscheidet.
LOVE architecture war eines von 18 Büros, das an dem 2012 ausgeschriebenen Wettbewerb teilgenommen hatte und im ersten Schritt neben dem dänischen Architekturbüro Henning Larsen Architects als Sieger hervorgegangen war. In einer zweiten Stufe konnte sich das Projekt des Grazer Büros mit seiner auffälligen Dia-Grid-Struktur durchsetzen und wurde in Kooperation mit dem Aachener Büro kaddawittfeldarchitektur realisiert. „Neben der Anlehnung an die Industriearchitektur des umliegenden historischen Bahnhofsareals wollten wir durch die an der Fassade entwickelte Sinuskurve der Stützen das Tätigkeitsfeld des Bauherrn als Stromübertragungsnetzbetreiber abstrahiert wiedergegeben“, so Architekt Jenewein. „Diese Idee kommt vor allen Dingen nachts zur Geltung, wenn die entsprechenden Stützen illuminiert werden und sich so aus der Netz- eine Linienstruktur ergibt.“
Enorme Kräfte, dezente Knotenpunkte
Bereits im Wettbewerbsverfahren war die Idee, aus dem regelmäßigen Fachwerkverband der Verbundstützen immer wieder einzelne Stützen herauszunehmen, geprüft und für realisierbar befunden worden. Grundsätzlich stand diesem Ansatz also nichts im Wege. In der Umsetzungsphase wurde allerdings schnell deutlich, dass einzelne Knotenpunkte eine echte Herausforderung für die beauftragten Tragwerksplaner mit sich brachten: „Das Gesamtkonzept ist gut und schlüssig und die meisten Punkte ließen sich entsprechend einfach lösen. Aber es gab sicher fünf oder sechs Knotenpunkte, mit denen wir uns sehr intensiv beschäftigen mussten!“, erzählt Ralph Prüfer, Projektleiter Tragwerksplanung im Ingenieurbüro INROS LACKNER SE. „Der kniffligste des gesamten Projekts war der Knotenpunkt an der Gebäudeecke am Eingang auf Höhe der Decke des Erdgeschosses, an dem auch die Kragträger des Vordachs befestigt sind. Durch die Fassadengeometrie und den damit verbundenen Lastfluss konzentrieren sich enorm viele Kräfte in einem Punkt. Optisch sollte er aber genauso in Erscheinung treten wie alle anderen Knoten auch.“ An dieser Stelle mussten die Lasten von oben über die schräg stehenden Stützen durch die Decke hindurch nach unten abgetragen werden, wo sie sich wiederum in einem neuen Winkel aufspreizen. Bedingt durch die Schrägstellung der Stützen entstanden in der Decke Horizontalkräfte von bis zu 7 000 kN.
Die eigentliche Kunst lag nun darin, all die dafür notwendigen Einbauteile in einer 35 cm-Flachdecke und den 42 cm-Stahlbetonverbundstützen unterzubringen. „Ers-tens war die Einbindung des auskragenden Vordaches mit 3 m Länge zu berücksichtigen, die zudem natürlich auch wärmetechnisch, also im Hinblick auf die Vermeidung der relevanten Wärmebrücke einwandfrei funktionieren musste. Zweitens mussten wir überlegen, wie die Bleche aussehen können, um die durch die schräg zueinander- und auseinanderlaufenden Stützen führenden Kräfte zu leiten. Und drittens mussten die sehr hohen Horizontallasten durch Zugbänder in der Decke eingebunden werden“, beschreibt Ingenieur Prüfer die Aufgabe. „Wir haben also zunächst für jede Fragestellung eine Lösung gesucht und diese Lösungen dann übereinandergelegt. Wenn dann beispielsweise notwendige Bleche oder Laschen im Modell übereinanderlagen, mussten wir neue Formen der Verbindungsmittel entwickeln.“
3D-Modell
Hilfreich in der gesamten Planung war ein 3D-Modell mit FEM-Software, mit dem sich das Projekt komplett berechnen ließ. So konnten zum Beispiel die zusätzlich durch Temperaturunterschiede entstehenden Spannungen berücksichtigt werden, die ebenfalls in der Konstruktion wirksam werden, da auf die außenliegenden Stützen andere Randbedingungen wirken als auf die innen liegenden Bauteile. „Diese unterschiedlichen Bedingungen können bereichsweise die Kräfte, die aufgenommen werden müssen, verdoppeln!“, so Prüfer. „Aber auch darauf kann man reagieren, sofern man das Problem erkannt hat. Die Knoten werden komplexer und es müssen mehr beziehungsweise stärkere Einbauteile untergebracht werden.“ Insgesamt ist es gelungen, die Stützen optisch alle gleichwertig erscheinen zu lassen, obwohl sich in ihrem Inneren teilweise komplette Stahlkerne und an anderer Stelle nur einzelne Bewehrungsstäbe befinden.
Und noch eine weitere statische Anforderung brachte das außenliegende Traggerüst mit sich: Die unterschiedlich hohen Gebäudeteile bewirken unterschiedlich hohe Belas-tungen auf die beiden Teile der Bodenplatte. Die durchlaufende Fassadenstruktur erlaubt zwischen den Gebäudeteilen keine Verschiebungen, was den Einbau einer Dehnfuge verbietet. Daher wurde der Baugrund unter dem Hochhaus per Rüttelverdichtung extrem komprimiert, so dass die auftretenden Setzungsdifferenzen trotz unterschiedlicher Be-lastungen minimiert werden konnten.
Transparenz und Vernetzung
Der Aufwand hat sich gelohnt! Denn tatsächlich konnten die nun vom Tragwerk weitestgehend freien Flächen flexibel bespielt werden. Die Mitarbeiter des 50Hertz-Unternehmens waren von Anfang an durch ein mitarbeiterintegriertes Verfahren in die Planung der Büronutzung einge-
bunden worden. Gemeinsam mit dem Büro IF5 waren Bürowelten definiert worden, die im weiteren Planungsverlauf Grundlage der Innenarchitektur für das Berliner Büro Kinzo Berlin GmbH darstellte. In den non-territorialen Flächen wird weitestgehend auf abgeschlossene Büroräume verzichtet. Vielmehr reihen sich entlang der Fassaden die Arbeitsplätze in größeren und kleineren Gruppen, während im Gebäudeinneren Teamarbeitsplätze, Loungebereiche und Stehtische für vernetztes Arbeiten innerhalb und zwischen den Teams liegen. Dennoch wurden auch einzelne Besprechungs- und kleine Rückzugsräume berücksichtigt. Wichtiges Element der wohnlichen Atmosphäre sind die so genannten Outdoor-Workspaces, wie Terrassen und Loggien.
Der Wunsch nach Offenheit und Transparenz war es letztlich ja auch, der den gesamten Entwurf und das Grundkonzept bestimmt. Dazu gehören neben der offenen Fassade, die in leuchtendem Gelborange gestrichenen Betonkerne der Vertikalerschließung, die bis an die Straße wirken und die Blicke in das Gebäude leiten. Sie zeigt sich aber auch darin, dass es möglich ist, trotz des anspruchsvollen Sicherheitskonzepts einen Blick in die Ersatzleitwarte im Erdgeschoss zu werfen und in der Idee, auch innerhalb des Standortes offen zu sein und sich zu vernetzen, beispielsweise durch das Öffnen der Mitarbeiter-Kita für externe Kinder oder gemeinsame Veranstaltungen mit dem angrenzenden Museum für Gegenwartskunst. Nina Greve, Lübeck
Baudaten
Standort: Heidestrasse 2, 10557 Berlin
Typologie: Büro und Verwaltung
Bauherr/Nutzer: 50Hertz Transmission GmbH, Berlin
Architekt: LOVE architecture and
urbanism ZT GmbH Berlin, Graz/AT; www.love-home.com
Projektleiter: Andreas Perchinig
Mitarbeiter: Carina Faustmann, Peggy Marten, Wolfgang Schneider, Ania Moch, Verena Auer, Christina Windisch, Sigrid Derler, Tamara Frisch, Stephanie Jordan, Wolfgang Mitterer, Iulius Popa
Kooperationspartner LPH 4 – 8:
kadawittfeldarchitektur, Aachen,
www.kadawittfeldarchitektur.de
Mitarbeiter: Holger Giesen (Projektleiter stv), Karl Büttner, Max Schöneich, Max Schmidt, Henning Drefke, Christian Kreifelts, Lars Junold, Jonas Kröber
Bauleitung: KWBau Gmbh, Aachen
Mitarbeiter: Jörg Baumann, Maren Brandt, Suat Schöneich, Jan Knoops
Generalunternehmer: Ed Züblin AG, Berlin; www.zueblin.de
Bauzeit: Februar 2014 – September 2016
Fachplaner
Tragwerksplaner, TGA-Planer: Inros Lackner SE, Rostock
Fassadentechniker: Ingenieurbüro Reincke, Rostock; www.ingbuero-reincke.de
Lichtplaner: Aurelia Design, Rostock; www.aurelia-design.com
Innenarchitekt: Kinzo, Berlin;
www.kinzo-berlin.de
Akustikplaner: Kohlen und Wendtland, Rostock, www.schallschutz-rostock.de
Landschaftsarchitekt: Man Made Land, Berlin; www.manmadeland.de
Energieberater: Drees & Sommer Advanced Buildings, Stuttgart;
www.dreso.com
Brandschutzplaner: HHP Nord/Ost, Braunschweig, www.hhp-nord-ost.de
Projektdaten
Grundflächenzahl: 0,33 (nur BA1)
Geschossflächenzahl: 2,2 (nur BA1)
Nutzfläche gesamt: 17 369 m²
Nutzfläche: 15 622 m² oberirdisch
Technikfläche: 1 234 m² oberirdisch
Verkehrsfläche: 2 555 m² oberirdisch
Brutto-Grundfläche: 23 230 m² (oberirdisch), 6 225m2 (unterirdisch)
Brutto-Rauminhalt: 88 701 m³
(oberirdisch), 33 755 m³ (unterirdisch)
Energiebedarf
Endenergiebedarf: 56,0 kWh/m²a
nach EnEV 2009
Energiekonzept
Gebäudehülle
U-Wert Bodenplatte =⇥0,20 W/(m²K)
U-Wert Dach =⇥0,14 W/(m²K)
Uw-Wert Fenster =⇥0,81 W/(m²K)
Ug-Wert Verglasung =⇥0,81 W/(m²K)
Zertifizierung:
DGNB Diamant, DGNB Gold, LEED Gold
Hersteller
Fassade: SOMMER Fassadensysteme-Stahlbau-Sicherheitstechnik GmbH & Co. KG, www.sommer-hof.com
Sonnenschutz/Blendschutz: WAREMA Renkhoff SE, www.warema.de; Kvadrat, www.kvadrat.de
Akustikelemente: Silentrooms GmbH & Co. KG, www.silentrooms.de
Glasbrüstungen: GLASSLINE GmbH, www.glassline.de
Türen/Tore: Westag & Getalit AG, www.westag-getalit.com
RWA-Anlage:
Alfred Eichelberger GmbH & Co. KG, www.alfred-eichelberger.de
Brandschutzvorhänge:
clauss markisen Projekt GmbH,
www.clauss-markisen.de
Beleuchtung:
Selux AG, www.selux.com; XAL GmbH, www.xal.com; iGuzzini illuminazione S.p.A, www.iguzzini.com