Am Himmel ist noch Platz
Sie überwinden nicht nur Höhenmeter – hoch über dem Verkehrschaos
der Städte schaffen sie auch neue Perspektiven für den öffentlichen
Nahverkehr. Bürgerinnen und Bürger scheinen dem neuen Verkehrsmittel
gegenüber aufgeschlossen zu sein. Und auch Städte und Kommunen
investieren bereits in zukunftsträchtige Projekte.
Endlose Staus in den Städten, Stehen statt Fahren, zeitraubendes Überwinden selbst kurzer Distanzen, genervte Autofahrer. Und auch der öffentliche Personen-Nahverkehr stößt an seine Grenzen: überfüllte S-Bahnen und Busse in Stoßzeiten, knappes Sitzplatzangebot, Verspätungen, missmutige Fahrgäste. In den Städten steckt die Verkehrspolitik in einer Sackgasse. Das wissen auch die Fachleute in den Verkehrsministerien des Bundes, der Länder und der Kommunen und versuchen deshalb, Mobilität neu zu denken: Wenn es unten eng wird, warum nicht mit urbanen Seilbahnen nach oben ausweichen? Unterm Himmel gibt es ausreichend Platz und am Boden lässt sich das bestehende Raumangebot besser und sinnvoller nutzen.
Urbane Seilbahnen als fester Bestandteil des ÖPNV? Das mag etwas abenteuerlich klingen, weil diese luftige Art der Fortbewegung in unseren Breiten vorwiegend touristische Impulse auslöst und weniger die Antennen für pragmatische Problemlösungen anspricht. Aber das Angenehme muss mit dem Praktischen nicht kollidieren: Gelassen zum Ziel schweben, die Aussicht genießen und die im Schritttempo schleichenden Fahrzeuge entspannt überholen wäre auch ein durchaus willkommener Komfortaspekt, für manche sogar ein Genuss.
Von der Idee zur Alternative
Aber Komfort und Genuss sind nur emotionale Aspekte. Seilbahnen verbuchen auf der Habenseite einen beinahe konkurrenzlosen Nutzen. Sie überspannen in Städten Flüsse und Bergeshöhen, auch große Verkehrsachsen und Bahntrassen. Sie sind schneller zu realisieren und signifikant kostengüns-tiger zu errichten als Tunnel zu bohren oder Brücken zu bauen. Vor allem sind Seilbahnen klimafreundlich und können mit Ökostrom CO₂-neutral betrieben werden. Dass sie zuverlässig sind, belegen die Erfahrungen im Winterbetrieb in den Bergen. Was aber die VerkehrspolitikerInnen am meisten interessiert: Sie können Lücken im ÖPNV schließen und die Vorstädte anbinden. Seilbahnen sind für Passagiere immer verfügbar, sie sind weitgehend witterungsunabhängig und kennen keine Hindernisse. Wenn die Kabinen um Umlauf fahren, braucht es noch nicht einmal einen Fahrplan. Man steigt einfach ein und schwebt seinem Ziel mit einer beschaulichen Durchschnittsgeschwindigkeit von maximal 30 Stundenkilometern entgegen. Seilbahnen sind grüne Infrastruktur. Und sind sie nicht mehr gewollt, dann geht ihr Rückbau vergleichsweise schnell und einfach vonstatten.
Trotz dieser unstrittigen Vorteile führen Seilbahnen in Deutschland ein Schattendasein, gelten weitgehend als exotisches Verkehrsmittel. Noch nicht einmal vor einem Jahrzehnt stießen solche Mobilitätskonzepte bei KommunalpolitikerInnen auf völliges Unverständnis, ihre Städte lägen schließlich nicht auf der Zugspitze, lästerten sie. Aber diese Zeiten sind seit der massiven Verkehrsproblematik, der sie sich zunehmend ausgesetzt sehen, vorbei. Die „schräge Idee“ ist inzwischen zur Alternative mutiert.
Gutes Image in der Bevölkerung
Eine repräsentative Drees & Sommer-Stichprobe vom Mai 2019 unter 180 ProbandInnen zwischen 18 und 80 Jahren brachte ein überraschendes Ergebnis: 83 Prozent der befragten Personen stehen einem Einsatz von Seilbahnen positiv gegenüber, die überwiegende Mehrheit also. Eine Umfrage des Verkehrsexperten Prof. Klaus Bogenberger von der Münchner Bundeswehr-Universität kam mit 87 Prozent Zustimmung zu einem ähnlichen Ergebnis. Die befragten Personen gaben auch an, Seilbahnen, wenn vorhanden, nutzen zu wollen.
Der Umfrage zufolge sind 42 Prozent der befragten Personen überzeugt, dass Seilbahnen den öffentlichen Nahverkehr insgesamt verbessern und stark beanspruchte Verkehrsstrecken entlas-ten. Lediglich was das Sicherheits-Empfinden bei dieser Mobilitäts-Alternative betrifft, blieben die Probanden reserviert: Nur 31 Prozent vertrauen dem System „voll und ganz“. Vor allem treibt die Skeptiker die Frage um, wie BetreiberInnen bei unvorhergesehenen Situationen wie Unfällen oder einem Versagen der Technik reagieren.
Skepsis beim Thema Privatsphäre
44 Prozent der befragten Personen plagt hingegen ein völlig anderes Problem: Sie sehen in der Seilbahn, die an ihren Wohnungen vorbeiführt, eine Beeinträchtigung ihrer Privatsphäre. Das sogenannte „Not-In-My-Backyard-Syndrom“, in der Bevölkerung als Sankt-Florians-Prinzip geläufiger, scheint offensichtlich ein mentales Hindernis für die Akzeptanz von Seilbahnen zu sein. Obwohl viele Menschen von den Vorteilen einer solchen Anlage überzeugt sind, bleibt die Zustimmung verhalten, wenn die Kabinen am Schlafzimmerfenster vorbeischweben.
Aber auch diese Skepsis scheint nicht in Stein gehauen. Laut Umfrage gaben drei von vier der befragten Personen an, dass eine Trasse durchaus in direkter Nähe zu ihrem persönlichen Wohnumfeld verlaufen kann, sofern diese angemessen hoch installiert ist. Und nach aller Erfahrung steigt die Akzeptanz von Seilbahnen, wenn sie erst einmal Teil des öffentlichen Nahverkehrs sind. So sollte die Seilbahn in Koblenz, die anlässlich der Bundesgartenschau 2011 gebaut wurde, nach der Blumen-Schau wieder abgebaut werden. Doch eine Bürgerinitiative wehrte sich und setzte sich für ihren Verbleib ein.
Menschen mitnehmen
Für Drees & Sommer, die in Koblenz den Bauherrn bei Wettbewerb und Auswahlverfahren begleiteten, ist deshalb der Rückhalt in der Bevölkerung das entscheidende Erfolgskriterium. Auch wenn die Seilbahn im Vorfeld häufig umstritten ist, wollen die Menschen sie dort, wo sie in luftiger Höhe ihre Bahnen zieht, nicht mehr missen. Wer die Bevölkerung von Anfang an mitnimmt, den Dialog sucht und offensiv kommuniziert, kann die Bedenken der Bevölkerung ausräumen. Eine Seilbahn muss nicht zwangsläufig in den Köpfen der betroffenen BürgerInnen scheitern.
Leichter wäre es für die EntscheidungsträgerInnen in den Kommunen, wenn es in Deutschland ein „Leuchtturmprojekt“ für eine in den Nahverkehr integrierte Seilbahn gäbe, woran sich Städte und ihre BewohnerInnen orientieren könnten. Die Bedenken der Menschen sind zwar real, aber oft diffus. 16 teils unterschiedliche Landesseilbahngesetze sind dabei der Sache nicht unbedingt förderlich. Vorstellungen über die Machbarkeit klaffen auch weit auseinander. So sind Stützen heutzutage nur noch im weiten Abstand von 200 bis 300 m nötig, mit moderner Technologie sogar bis zu 1 km, während vor Jahrzehnten noch ein Abstand von 50 m für notwendig erachtet wurde.
Pendeln mit der Seilbahn
Auch wenn Deutschland nichts Vorzeigbares aufbieten kann, „Leuchtturmprojekte“ gibt es durchaus. So besteht im bolivianischen La Paz das weltweit größte Seilbahnnetz mit aktuell elf Linien und einer Gesamtlänge von über 34 km. Die „Mi Teleférico“ (zu Deutsch: „Meine Seilbahn“) erschließt das Regierungsviertel mit der Nachbarstadt El Alto und transportiert täglich mehr als 300 000 Fahrgäste. Seit der Eröffnung im Jahr 2014 wurden insgesamt 200 Millionen Passagiere transportiert. Die Linie „Café“ überwindet 714 Höhenmeter, die noch vor nicht allzu langer Zeit zeitraubend mit Bussen bewältigt werden mussten. Die „Mi Teleférico“ wird von den Hauptstadt-BolivianerInnen als städtisches Verkehrsmittel nicht nur geschätzt, sie ist vor allem nicht mehr wegzudenken. Aufgrund des großen Erfolgs sind weitere Linien geplant.
Auch das kolumbianische Medellín, nach Bogota die größte Stadt des Landes, kann als Vorzeigemodell herhalten. Das „Metrocable“, ein Transportsystem mit drei Seilbahnlinien, verbindet zwei Armenviertel auf den Bergen mit dem Zentrum im Tal und erfüllt damit ganz nebenbei auch eine soziale Funktion. So ist beispielsweise die Kriminalitätsrate seit der Eröffnung im Jahr 2004 spürbar gesunken. Vom städtischen Zentrum im Tal auf den hochgelegenen Stadtteil Santo Domingo benötigt man mit der Seilbahn lediglich 30 Minuten. Vor Inbetriebnahme brauchte man mit Bussen über die Serpentinen mehr als zwei Stunden.
Weniger soziale Relevanz als praktische und touristische Bedeutung hat die „Singapur Cable Car“, die den Mount Faber mit der Ferieninsel Sentosa verbindet und über den Kreuzfahrthafen Keppel Harbour führt. Die Passagiere verkürzen nicht nur ihre Fahrzeit gegenüber dem Landweg und der Wasserstraße erheblich, sie werden auch mit einer atemberaubenden Aussicht auf Singapur belohnt.
La Paz, Medellín und Singapur dürften nur die spektakulärsten Seilbahnprojekte sein. Bescheidener fallen andere Anlagen aus, beispielsweise die in Ankara. Mit lediglich 3,2 km Länge und stündlich 2 400 Fahrgästen ist sie allerdings die längste Einrichtung dieser Art in Eurasien. In New York überquert die „Roosevelt Island Tramway“ den East River und führt die Passagiere durch Manhattans Häuserschluchten direkt ins Zentrum der Millionen-Metropole. Auch die „Telecabine“ in Lissabon ist mit 1,2 km Länge eher eine miniaturisierte Ausgabe. Sie wurde anlässlich der Expo 1998 errichtet und bringt die Fahrgäste entlang des Tejos in nur zehn Minuten direkt zum „Park der Nationen“. Weitere kurze Seilbahnstrecken finden sich in London, Algier und Portland.
Allen Seilbahnprojekten ist jedoch gemeinsam, dass sie entweder aus einer Notlage (La Paz oder Medellín) oder anlässlich eines Publikum-Ereignisses (Köln und Koblenz) entstanden sind. Sie als strategische Weiterentwicklung im öffentlichen Nahverkehr zu begreifen, ist noch eine relativ junge Erscheinung.
BMVI forciert Seilbahnen für Städte
In Deutschland wurde bislang noch kein einziges Luftschwebebahnprojekt in den ÖPNV integriert, weshalb auch keine unmittelbaren Erfahrungswerte vorliegen. Einen wichtigen Anstoß, diese Zurückhaltung aufzugeben, gab das Bundesverkehrsministerium (BMVI) im Sommer 2020, als sie Drees & Sommer zusammen mit dem Verkehrswissenschaftlichen Institut Stuttgart (VWI) den Forschungsauftrag erteilte, eine Studie über die „stadt- und verkehrsplanerische Integration urbaner Seilbahnprojekte“ zu erarbeiten und einen Leitfaden für die Realisierung von Seilbahnen als Bestandteil des öffentlichen Personen-Nahverkehrs (ÖPNV) zu erstellen. Ziel ist, so das BMVI, „innovative Konzepte zu schaffen, die das öffentliche Verkehrssystem sinnvoll ergänzen und neue Optionen für nachhaltige Mobilität im urbanen Raum ermöglichen.“ Dabei geht es nach der Vorstellung des BMVI um nichts weniger als um einen „nationalen Standard“ für urbane Seilbahnen in Deutschland.
Zwar gibt es mit der „EU-Seilbahnverordnung 2016/424“ eine europäische Rechtsgrundlage, die Vorschriften über den Entwurf, den Bau und den Betrieb neuer Seilbahnen enthält. Als Fallbeispiele dienten in der Verordnung die Anlagen in Lissabon und London, die allerdings erbaut wurden, bevor die EU-Verordnung in Kraft trat und deshalb kaum als praktische Handlungsanweisung herangezogen werden können. Hinzu kommt, dass die Erfahrungen in Bezug auf Planungs- und Genehmigungsverfahren aus anderen Ländern aufgrund unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Bedingungen nicht oder nur eingeschränkt auf Deutschland übertragbar sind
Städte und Kommunen aufgeschlossen
Wenngleich in Deutschland nur bescheidene Erfahrungen mit Seilbahnen im urbanen Bereich vorliegen, gibt es trotzdem in zahlreichen Städten Planungen zum Einsatz dieses Systems als Ergänzung zum bestehenden öffentlichen Nahverkehr. In Köln, Bonn, Stuttgart, München, Düsseldorf und Berlin sind die Pläne bereits weit fortgeschritten; in Bonn und Wuppertal schon so weit, dass Studien fertiggestellt oder – wie in Stuttgart und München – beauftragt worden sind. Für die politischen EntscheidungsträgerInnen stellt das neue Verkehrsmittel nicht nur anspruchsvolle Anforderungen an Planung und Bau, sondern auch an die Kommunikation. Schließlich müssen die Betroffenen in den Städten von dem Konzept überzeugt sein.
Unbestritten sind urbane Seilbahnen, wenn die Einsatzbereiche klar für ein „überirdisches“ Konzept sprechen. Seilbahnen eignen sich also vorwiegend beim Überwinden topografischer, baulicher und verkehrlicher Hindernisse und als Zubringer bestehender ÖPNV-Trassen. Ihr Einsatz bringt eine Entlastung der bestehenden Verkehrsinfrastruktur und schließt verkehrliche Lücken. Schließlich können sie leichter verkehrsmäßig belastete und periphere Standorte verbinden und insgesamt neue Verkehrsnetze ermöglichen.
Nach Einschätzung des Bundesverkehrsministeriums spielt die Funktion „Überbrücken“ die entscheidende Rolle. Die bisher in Fallbeispielen untersuchten Systeme überqueren Gewässer (New York, Lissabon, London), verbinden höherliegende mit tieferliegenden Standorten (Medellín, La Paz, Portland, Algier, Ankara) oder binden schwer zu erschließende Gebiete an das bestehende ÖPNV-Netz an.
Die Fallbeispiele zeigen überdies, dass die größten Potentiale auf Distanzen von etwa 5 km liegen, wobei mindestens ein Hindernis überwunden wird. Hier können die Seilbahnen ihre Stärke als direkte Punkt-zu-Punkt-Verbindung gegenüber klassischen Verkehrssystemen ausspielen, die in der Regel große Umwege in Kauf nehmen müssen. Die kuppelbaren Ein-Seil-Umlaufbahnen (Medellín, La Paz, Lissabon, Ankara) sind jedenfalls bei längeren Distanzen den Pendelbahnen (New York und Portland) überlegen.
Ergänzung im ÖPNV-Angebot
Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis urbane Seilbahnprojekte verstärkt auf den Radarschirmen der VerkehrsplanerInnen auftauchen und als sinnvolle Ergänzung des bestehenden öffentlichen Nahverkehrs betrachtet werden. Drees & Sommer wird zusammen mit dem Verkehrswissenschaftlichen Institut in Stuttgart einen Leitfaden für die stadt- und verkehrsplanerische Integration erstellen, der als Handlungsanweisung für EntscheidungsträgerInnen dienen und die Akzeptanz dieses Verkehrsmittels in der Bevölkerung erhöhen kann.