Lebenslanges Autofahren? Schlecht für uns und unsere Städte
Sechseinhalb Stunden: Der aktuelle Film des Stadtplaners Reinhard Seiß, eine Geschichte über den automobilen Menschen und Vorschläge zur Rettung ebendessen kostet Zeit. Die ist aber notwendig, wenn man ansatzweise verstehen will, was wir mit dem Auto unserer Lebenswelt tagtäglich antun. Wir haben uns die 50 Geschichten angeschaut und sie als einen Vorschlag verstanden, scheinbare Bequemlichkeit gegen wirkliche Beweglichkeit einzutauschen.
Reinhard Seiß, engagierter und durchaus unbequemer Autor, Filmemacher und Stadtplaner mit Wohnsitz Wien, hätte es sich nicht besser aussuchen können: Die Premiere seines neuesten Films fällt in ein Jahr, in dem zum ersten Mal in seiner kurzen und zugleich ungebrochen voranschreitenden Geschichte der Industriezweig Deutschlands mit dem Rücken zur Wand steht; naja, beinahe, denn wenn etwas gerettet werden muss, dann die Automobilindustrie. Keine weiteren Wirtschaftsunternehmen in Deutschland sind derart in sämtliche gesellschaftliche, politische, kulturelle wie wirtschaftliche Belange eingeflochten wie VW, Mercedes oder BMW. Umso bedrohlicher – und fast hat es surreale Aspekte – ist deren momentane Lage, die Befindlichkeit einer Industrie, von deren Effizienz wir alle gelernt haben, von deren sogenannter Innovationskraft deutsche Ingenieurskunst Ausgangs- und Endpunkt nehmen wollte und noch immmer nimmt. Deutschland ist ein Land der Autobauer.
Eine Krise hat es allerdings gegeben in der über hundertjährigen Geschichte, die war in den 1970er-Jahren. Da hieß es, der explodierende Ölpreis werde das Geschäft mit dem Auto zugrunde richten. Von Knappheit war die Rede, von Endlichkeit der Ressourcen. Mancher erinnert sich möglicherweise an Szenen, die fröhliche Fußgänger mitten auf Straßen gehend darstellten, sogar die uns allen heilige Autobahn wurde bewandert. Das war keine Aktion von Klimaaktivisten, sondern der Ausdruck eines Übermuts eingeschworener Mitglieder einer Gesellschaft von Autofahrern (hier ausdrücklich das generische Maskulinum), die das taten, was sie immer schon tun wollten, sich aber niemals getraut hätten: auf Autobahnen laufen! Natürlich nur an diesem – wie man es damals nannte – „autofreien Sonntag“, am Montag war der Spaß vorbei, die Freizeitfußgänger saßen alle wieder hinter dem Steuer.
Das erste gesprochene Wort: Auto!
Mit Blick auf die lange Verbundenheit unserer Gesellschaft mit dem Auto verwundert es nicht, dass das häufigst gebrauchte erste Wort der gerade mit dem Sprechen beginnenden Menschen „Auto“ ist. Manchmal vor „Mama“. Wird das aber bleiben? Lebenslanges „Auto“? Wir, die Gesellschaft, tut eine Menge dafür, auch finanziell. Denn nicht allein ein Auto hat seinen Preis, insbesondere sind es die für die Industrie wichtigen Infrastrukturen wie Straßen, Brücken, Ampelanlagen, Parkplätze, Tunnel, Parkhäuser und Tiefgaragen, Lärmschutzwände und Trogbauten, Auf- und Zu- und Abfahrten und natürlich Tankstellen. Das alles anzulegen – inklusive der Kosten, Bahntrassen stillzulegen und Verkehrsverletzte, Verkehrsversehrte zu heilen und gar nicht so selten ein Leben lang zu pflegen – kostet die Gesellschaft Unsummen, die das Schmieröl sind für unser Wirtschaftssystem, das uns Wohlstand garantiert. Bisher jedenfalls, auch nicht für alle. Von den Menschen und Gesellschaften, die uns Rohstoffe für das Produkt Auto und unsere Automobilität unter Preis liefern, soll hier erst gar nicht die Rede sein. Monetäre oder moralische Schulden, die wir hier bis heute machen, haben wir noch nicht beglichen.
Was Reinhard Seiß in seiner nun auf 2 DVDs vorliegenden und aus 50 Kapiteln bestehenden sechseinhalb Stunden dauernden Dokumentation versucht, ist nicht etwa, dieses unglaublich kompliziert gewachsene Geflecht Automobilgesellschaft zu entflechten; dafür wären 6,5 Stunden Filmmaterial auch zu wenig. Er schaut – als Stadtplaner, der er ist – auf den Zusammenhang von Automobilität und Stadt. „Will man den Verkehr reduzieren“, heißt es irgendwo am Anfang der Bilderflut, „muss man die Stadt umbauen.“ Reinhard Seiß zäumt damit die von ihm auch anvisierte Debatte zu Klimawandel und seinen herausfordernden Folgen nicht frontal gegen den Verkehr auf. Sehr anschaulich aber zeigt er uns in vielen von monotonem Straßenlärm unterlegten, bewegungslosen Kameraeinstellungen Beispiele dafür, wie die Städte (im deutschsprachigen Raum), wie der öffentliche Raum auf das Auto eingestellt wurden und noch eingestellt werden. Stadtplanung ist eben immer noch und zuallerst Verkehrsplanung.
Fußgänger hintangestellt
Wir sehen in den Filmen dem Ausbau der Straßenlandschaft zu, sehen, wie der von der Politik ausgemachte Bedarf an infrastrukturellen Inves-titionen zu immer mehr Verkehr auf immer mehr Verkehrswegen führt. Wir sehen die Einkaufszentren auf der grünen Wiese, die Gewerbeparks, für die eigene Autobahnanschlüsse gefertigt werden. Wir sehen und hören vielspurige Straßen, an deren Rändern Menschen leben müssen, an deren Rändern Menschen am Verkehr teilzuhaben versuchen. Fußgänger warten auf ihre Grünphase wesentlich länger als Autofahrer. Denn der Verkehr muss fließen. In den ohnehin begrenzten Raum für Fußgänger werden zudem Masten für Oberleitungen, Container für Streugut und Parkbuchten für Automobilisten gestellt. Radwege werden so geführt, dass sie den fließenden Verkehr nicht am Fluss hindern. Doch wie kann das sein, dass der Steuerzahler Fußgänger dem Steuerzahler Autofahrer hintangestellt ist?
Ob die Politik tatsächlich an der Verkehrs-, Klima- und Städtebaumisere Schuld hat oder nicht doch die Wählerinnenschaft? Reinhard Seiß sieht vor allem die Politik als Schuldige, wohl auch, weil sie wesentlich mehr könnte, als sie sich traut – denn in einer Automobilgesellschaft ist man als Politiker schnell abgewählt, würde man laut über Alternativen nachdenken. Darüber beispielsweise, wie es denn – in der Schweiz – möglich sein kann, Mobilität auch auf dem Land für jeden Einzelnen so bereitzustellen, dass auch Gehbehinderte den Weg in die Stadt und weiter nehmen können. Was exemplarisch zeigt, dass das Argument, man dürfe den Menschen auf dem Land doch nicht das Autofahren schwer machen, eines ist, das den in der Vergangenheit wie Zukunft praktizierten Rückbau des ÖPNV (Bus und Bahn) aus der Wahrnehmung zu verdrängen versucht.
Das größte Problem ist die Dummheit
Dass ein umfassender, servicegetriebener, freundlich sauberer und dicht getakteter ÖPNV nicht mehr kostet als der Ausbau des Straßennetzes mit all den oben angerissenen, in der Regel verschwiegenen Nebenkosten, haben schon viele seriöse Wissenschaftler nachgewiesen. Einer von ihnen, Prof. Hermann Knopflacher (TU Wien), Erfinder des „Gehzeugs“, antwortet auf die Frage, was denn das größte Verkehrsproblem unserer Zeit sei, mit: „Dummheit“. Die wirkt überall dort, wo Alternativen anstrengend sind. Zum Beispiel, mit dem Fahrrad zu fahren oder der Bahn. Dass die (Deutsche) Bahn zurzeit eine Lachnummer in Europa ist, schmerzt; verschiedene Beiträge in der Filmdokumentation zeigen, was die Gründe sind: bessere Lobbyarbeit seitens der Automobilindustrie bei der Politik, die immer auf den Erhalt von Arbeitsplätzen schauen muss, mangelnde Budgets in mangelhaft aufgestellten Haushaltsplänen oder der sinnfreie Versuch, die Bahnen immer schneller werden zu lassen (z. B. „Stuttgart 21“). Dass mit dieser Geschwindigkeitssteigerung – in diesem Zusammenhang sei auch die widersinnige Weigerung genannt, auf Autobahnen und in den Innenstädten ein Tempolimit einzuführen: 100/30) – kleinere Strukturen (lokale Warenangebote etc.) geradezu ausradiert werden, ist den meisten immer noch nicht klar. Und die Frage, was wir denn mit der eingesparten Zeit machen, ist ebenfalls unbeantwortet. Physikalisch betrachtet ist die „Zeitersparnis“ ohnehin nur philosophisch zu diskutieren.
Dass tatsächlich eher die private Wirtschaft, die in Reinhard Seiß Beiträgen durchaus in größerer Menge zu Wort kommt, den Schienenverkehr dem Lkw-Transport vorzieht, hat den Autor dieses Beitrags dann doch überrascht, war ihm der Zusammenhang Bahnprivatisierung (Stichwort Börsengang) und Bahnkulturausverkauf doch ein verlässlicher. Die Tempolimitverbotsparteien, die in der Regel den Gesetzen des sogenannten freien Markts huldigen und sich als Mittelstandsinteressenvertreter verstehen, sollten diesen Punkt einmal mit ihrer Klientel besprechen, gerade jetzt, wo der Wählerinnenzuspruch dramatisch an die Außengrenzen des politischen Spektrums wandert.
Mit Hermann Knopflacher und anderen Protagonisten der kleinen Filme ist sich Reinhard Seiß darin einig, dass wir nicht die Autofahrer – also uns alle – angehen sollten, sondern das ganze Gehäuse, in dem das Autofahren möglich, vielleicht gar auch erzwungen ist. Man könnte die Fahrspuren in den Städten umwidmen (Radspuren), man könnte die Stellplatzverordnung abschaffen – manche Länder haben sie bereits in Ansätzen reformiert –, Ampelschaltungen so einrichten, dass Fußgänger und Radfahrer dem Autoverkehr gleichgestellt sind. Parkhäuser werden als Neubauten nicht mehr auf dem Stadtgebiet zugelassen, bestehende werden verkleinert. Büroneubauten werden nur noch ohne Tiefgarage gebaut etc. Wesentlich: Die Städte – und damit tatsächlich die Politik – müssen dafür sorgen, dass für den Stadtumbau passende Strukturen vorhanden sind. Heißt: Wenn es angenehm ist, zu Fuß zu gehen, gehen die meisten auch zu Fuß. Das Gleiche gilt für das Rad und den öffentlichen Verkehr. Wenn hier eine gute Taktung angeboten wird, Sicherheit und angemessene Kosten, dann entsteht der sogenannte Umweltverbund aus Fahrrad-, Fußgänger- und öffentlichem Verkehr und das Auto ist gar nicht mehr vorhanden. Also fast, denn es wird Zulieferer geben, Notfallversorgung und ein paar Car-Sharing-Angebote.
Anschauen lohnt, vielleicht stückchenweise
Dass das alles Hirnschmalz kostet, auch Überwindung, auch mal eine ungemütliche Fahrt mit Regenkleidung auf dem Rad, alles das und viele, viele weitere Aspekte im Diskurs über eine zukünftige, autoärmere Stadtgesellschaft, wird in jedem der filmischen Beiträge angedeutet, nachgewiesen, vorgestellt. Was wir am Ende damit machen, wir, die wir gerade am Scheideweg stehen? Vielleicht sollten wir mehr ausprobieren, so, wie es viele Kommunen ja längst machen mit unterschiedlichen ÖPNV-Angeboten, mit neuen Verkehrsverbünden. Diese Probephasen scheitern am Ende nicht selten an der Politik, weil alles zu teuer sei, „Kosteneffizienz!“, und man müsse am Ende an den Erhalt der Arbeitsplätz denken, immer! Dass diese sich demnächst in Zukunftstechnologien finden, dass ehemalige Bandarbeiter bei VW nun Solarpaneele zusammenschrauben oder Raummodule, die in Bestandsbauten neue Wohnungen schaffen, darüber zu sprechen bedarf es auch einer neuen Ästhetik. Die müsste, jenseits unsinnig PS-starker, aber auf Effizienz getrimmter Motoren und ausgefeilter Lackierungen neue Leitbilder vorstellen, jenseits des für unseren Sitz- und Fahrkomfort arbeitenden Stellmotorenparks, jenseits massenhaft CO2-produzierender Serverfarmen für ausgefeilte Navigationssysteme, die Entertainment (oder noch mehr Arbeiten) auf der Fahrt zwischen A und B möglich machen.
Ruhigere, aber belebte Plätze. Begegnungen auf der Straße, die zu einem Gespräch führen. Schneller Einkauf bei Tante Emma. Joggen ohne Luftfiltermaske. Morgens Vogelstimmen aus einem Baum im unversiegelten Boden vor dem Haus. Zweischeibenverglasung. Die Garage eine Werkstatt. Oder eine Feierbar. Keine Werkstattkosten. Keine Vollkasko. Keine Tankstelle um die Ecke, aus der giftige Dämpfe ins Schlafzimmer wehen. Weniger Feinstaub, weniger Hetzen über die Straße. Unfallstationen werden verkleinert, der Smog im Herbst und Winter ebenso, die Stadt gehört wieder ihren Bürgerinnen und gehorcht nicht mehr ausschließlich automobilien Anforderungen.
Ob das gelingt? Die Filme anschauen lohnt, vielleicht stückchenweise, nach Städten sortiert oder wild durcheinander. Zuviele Autogeschichten machen keine gute Stimmung, auch wenn sie bei Reinhard Seiß meistens ein Happy End andeuten, das jeder für sich selbst finden und umsetzen muss. Anders geht es nicht.
Benedikt Kraft/DBZ
„Der automobile Mensch. Irrwege einer Gesellschaft und mögliche Auswege“ (Regie: Reinhard Seiß, Wien 2024, modular 90-400 min, www.urbanplus.at)