»Ein Haus darf auch nicht ­zusammenstürzen«

Im Gespräch mit Hermann Czech, Wien/AT

Womit möchte man den Architekten verbinden? Mit Josef Frank, mit Adolf Loos? Mit seinen Bauten, mit den Schriften. Aber auch mit Konrad Wachsmann oder Christopher Alexander, dessen „Pattern Language“ Hermann Czech vor Jahren auf Deutsch herausgegeben hat. Welchem Architekten, welcher Haltung fühlt sich der in Wien lebende und arbeitende, gerade über 80 Jahre alte Architekt verbunden? In Aachen bot sich die Möglichkeit für ein Gespräch. Im Rahmen des Symposiums „Identität der Architektur“ mit dem Thema „Funktion“ (hier im Heft, S. ??). Nicht ohne Grund hatten Uwe Schröder und Hartwig Schneider Hermann Czech nach Aachen eingeladen. Er, dem die Prägung des Begriffs „Funktion“ irreführend ist, weil Funktion oftmals als dem Entwurf vorausgesetzt betrachtet wird, hielt dort den Auftaktvortrag. In welchem er noch einmal vertiefte, wieso es ein Missverständnis sei, dass Funktion häufig als konstitutiv für alles Folgende angesehen werde. Im Gespräch mit uns erklärt der „schreibende“ (aber immer noch auch bauende) Architekt, wie man ihn hier zu verstehen hat.

Hermann Czech zitiert Adolf Loos, Josef Frank und setzt mit vielen Überlegungen an deren Gedankenwelt an. Aber auch an Konrad Wachsmann oder Christopher Alexander, dessen „Pattern Language“ Czech vor Jahren auf Deutsch herausgegeben hat. In Aachen bot sich nun die Möglichkeit für ein Gespräch im Rahmen des Symposiums „Identität der Architektur“ mit dem Thema „Funktion“ (hier im Heft, S. 18/19). Nicht ohne Grund hatten Uwe Schröder und Hartwig Schneider den Wiener Architekten nach Aachen eingeladen. Er, dem die Verwendung des Begriffs „Funktion“ irreführend ist, weil Funktion dann als dem Entwurf vorausgesetzt betrachtet wird, hielt dort den Auftaktvortrag. In welchem er noch einmal vertiefte, wieso es ein Missverständnis sei, Funktion als konstitutiv für alles Folgende anzusehen. Im Gespräch mit uns erklärt der „schreibende“ (aber immer noch auch bauende) Architekt, wie man ihn hier zu verstehen hat.

Der Begriff der Funktion ist, so haben Sie gerade in Ihrem Einleitungsvortrag gesagt, der irreführendste im Architekturdiskurs.
Hermann Czech: Mit dem Begriff „Funktion“ hat man sofort die Assoziation, dass das etwas präzise Fassbares ist. Und vor allem: vor dem Entwurf da ist. Und mehr noch: Dass diese vorgegebene Funktion konstitutiv für den Entwurf ist. Das eben ist irreführend. Hier ist fast eine kopernikanische Wende im Denken erforderlich: Die Funktion ist vor dem Entwurf nicht da. Wie ja auch die ganze übrige Leistung des Entwurfs, Raum, Licht, Konstruktion beispielsweise noch nicht da ist.
Aber gibt es vor dem Entwerfen nicht doch die Bestellung gleichsam von etwas, das auf eine Weise zu funktionieren hat?
Aber das ist ja sehr allgemein, einerseits. Andererseits ist das, was ein Gebäude leisten soll, zu hinterfragen.
Also den Wunsch nach bestimmten Leistungen eines Gebäudes auch infrage stellen?
Auch das kann vorkommen. Tatsächlich verantwortet der Entwurf nicht nur, was der Bau kann, sondern auch was er überhaupt soll; zumindest ist der Architekt mitverantwortlich. Eine vernünftige Bauherrschaft sagt, was sie will, aber nicht, wie sie es will. Oft glauben allerdings Bauherren auch zu wissen, wie ihre „Funktionen“ im Gebäude ausschauen müssen.
Liegt das an der Unschärfe des Begriffs, der alles, aber auch wieder gar nichts möglich macht?
Das auch; „Funktion“ kann alles Mögliche heißen, aber immer meint man eine vorgebliche Zwangsbedingung. Nehmen Sie einmal etwas ganz Einfaches, einen Tisch beispielsweise, einen Sessel. Sie sitzen nun auf dem Sessel und haben ein Glas vor sich auf dem Tisch. In unserer allgemeinen Betrachtungsweise ist der Tisch meistens das Schwere, Unbewegliche, der Sessel ist das Leichte, man kann ihn hin und her bewegen. Im orientalischen Kulturkreis ist das aber ganz anders, da ist unter Umständen der Sessel das Schwere und daneben habe ich ein kleines Tischchen, das ich zu einem anderen Sessel stellen kann. Hier haben wir eine prinzipielle Umdeutung von etwas, was an sich klar erscheint. In diesem Beispiel ist es ein kultureller Unterschied der „Funktion“; konkret ergeben sich bei jedem Entwurf analoge individuelle Unterschiede.
Mündet Funktion in unserer globalisierten Welt heute nicht zwangsläufig in einen kulturegalitären Funktionalismus?
Nein, das glaube ich nicht, erstmal noch nicht. Dazu müsste ja das verbale Missverständnis, von dem ich rede, sich tatsächlich in der Architekturproduktion durchsetzen und vorgegebene „Funktionen“, die sich als normierte Forderungen angleichen würden, unhinterfragt bleiben.
Werden Konstruktion und Funktion also mit jedem Entwurf neu erfunden, optimiert?
Genauso ist es. Natürlich kennt man zu jeder Frage andere zeitgenössische und historische Lösungen, je mehr desto besser; genau diese kritische Auswahl und das Weiterdenken obliegt aber dem Architekten oder der Architektin. Es gibt immer etwas, das man besser machen kann. Und schauen Sie: Es gibt soviel, an dem zu arbeiten ist, was im Vorhinein gar nicht feststehen kann. Wenn jemand zum Beispiel sagt, ich brauche eine große überdeckte Halle, dann stellt sich die Frage, ob die Hallenfläche wirklich stützenfrei sein muss? Und dann gibt es, aus der Geschichte bis ins unsere Zeit immer mehr Lösungen, die für ein Nachdenken über das Funktionale infrage kommen. Die Varianz der Lösungen nimmt laufend zu.
Womit wir wieder beim Unschärfethema sein könnten. Etwas Anderes: Haben Sie als Östereicher, als Wiener gar einen anderen Blick auf die Funktion als wir Deutsche?
Nein, das Prinzip macht da keine regionalen Unterschiede. Vielleicht gibt es steifere oder lockerere Praktiken und vielleicht schreibt man ers-tere eher den Deutschen zu …?!
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Funktion und Typologie?
Natürlich – Nutzungen haben immer wieder Bautypen mit sich gebracht; die gehören zu dem Material, das den Entwurfsüberlegungen zugrundeliegt. Letztlich geht es dabei um die Verbindung und Erschließung von Räumen – und um deren Größe. Es gibt einfach verschiedene „typische“ Raumgrößen. Solche für einzelne Personen oder Personengruppen, „Zimmer“, zum Wohnen, Schlafen etc., also eher kleine Räume. Dann gibt es solche, in denen sich sehr viele Menschen aufhalten können, Säle, Hallen etc. Und dann diese eigenartigen Raumgrößen dazwischen, ein Klassenzimmer zum Beispiel, für vielleicht 20 bis 80 Personen. Aber schon die Art der Trennung/Verbindung dieser Räume ist ein offenes Feld.
Ist Unbestimmtheit die Flexibilität, die aus Gründen der Ökonomie, aber auch aus dem Grund der Nachhaltigkeit zunehmend gefordert wird?
Flexibilität ist ja durchaus erstrebenswert und ist in der Vergangenheit immer wieder ein zentrales Thema im Entwurf gewesen. Das wird aber zunehmend durch die stetig steigenden Anforderungen an Schallschutz oder Wärmeschutz – oft auch unnötigerweise – massiv erschwert.
Geht die Forderung nach Flexibilität – die ja auch Standardisierung einschließt – überhaupt mit der nach Individualisierung, Adressbildung zusammen?
Ich denke schon. Wenn man die Wohnhäuser der Gründerzeit nimmt, sind die sehr gut auch für eine Büronutzung zu verwenden.
Würden Sie mir widersprechen, wenn ich sagte, ein Haus muss funktionieren?
Ein Haus darf auch nicht zusammenstürzen … Das ist genau diese Irreführung, die in der Frage liegt. Als wenn die Funktion im Voraus exakter definiert werden könnte als die Konstruktion. Beides ist erst im Entwurf zu definieren.
Was fällt Ihnen zum Begriff „Funktion“ mit Blick auf die Stadt ein? Das ist auf der Tagung bisher kein Thema gewesen …
Zum „Funktionieren“ einer Stadt gehört die Orientierung. An dieser – eben wieder allgemein formulierten – „Funktion“ scheitern die modernen Bebauungen regelmäßig. Wie findet man eine Adresse? Wenn Sie heute jemanden in einem Neubaugebiet besuchen wollen, müssen Sie 20 Minuten mehr Wegezeit einplanen. In der klassischen Stadt hat das ein reziprokes Gerüst von gut verzahnten Verkehrs- und Nutzflächen geleis-tet. Meist war das eine Matrix der Elemente Baublock und Straßenkreuzung. Dieses geometrisch-planerische Problem in allgemeinerer Fassung neu zu lösen, ist Planern und Architekten bei weitem noch nicht gelungen.
Warten Sie noch auf ein Projekt? Was würden noch gerne bauen?
Ein Theater würde ich gerne bauen. Weil ein Thea-ter ein Raum ist, der im Idealfall zum Inneren hin immer konzentrierter wird. Neue Häuser haben meist die parallelen Reihen eines vergrößerten Pfarrsaals; die einzige Spannung entsteht dadurch, dass man weiter vorn sitzen möchte. In klassischen Theatern war das Publikum nicht nur auf die Bühne, sondern auch – vergewissernd – auf sich selbst gerichtet. In meiner Vorstellung müsste einem schon räumlich – am Weg ins Innere, an der Grenze zwischen Schauraum und Spielfläche – klarwerden, warum man da hereinwollte.
Bauen als eine Art andauerndes Experiment?
Ja, so kann man das durchaus sehen.
Mit Hermann Czech unterhielt sich DBZ-Redakteur Benedikt Kraft am 24. Januar 2019 am Institut des Lehr- und Forschungsgebiets Raumgestaltung der RWTH Aachen
www.hermann-czech.at
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