Eine neue Kathedrale der EisenbahnKing‘s Cross Station, London/GB
Die Aufgabe im 160 Jahre alten Gehäuse des viktorianischen Bahnhofs King‘s Cross einen Bahnhof des 21. Jahrhunderts zu verwirklichen, glich einer Quadratur des Kreises. Eine Aufgabe, die 14 Jahre beanspruchte, aber den beiden Londoner Büros John McAslan + Partner und Arup gelang. Ihre Kathedrale einer neuen Ära der Mobilität bezaubert längst nicht nur Bahnreisende.
Vorbei sind die Zeiten, als Londons Bahnhöfe nur Historiker ins Schwärmen brachten. Misswirtschaft und Zugausfall als Regelfall trieben von den 1970er bis weit in die 1990er Jahre des 20. Jahrhunderts viele Reisende in Großbritannien von der Schiene auf die Straße. Milliarden gab man zwar für den großen Kanaltunnel aus, um aber den Hochgeschwindigkeitszug TGV ab Dover lange Zeit mit nur knapp 90 Stundenkilometer nach London bummeln zu lassen. Die Revolution der Schiene schien im Geburtsland der ersten Lokomotiven und Bahnhöfe einfach keine Resonanz zu finden.
Erst in den 1990er Jahren setzte ein Umdenken ein, das Bahnnetz in Großbritannien ähnlich dem in Kontinentaleuropa zu modernisieren. Der Umbau der beiden viktorianischen Nachbarbahnhöfe St. Pancras und King´s Cross am Rand der nordöstlichen Innenstadt Londons ist Auftakt für ein neues britisches Bahnzeitalter, das nicht zuletzt auch London rasant architektonisch und städtebaulich verändern wird. Als Großbritanniens Tor zum Kontinent dient seit 2007 der wieder eröffnete Bahnhof St. Pancras, als Tor in den Norden des Königreiches King‘s Cross, dessen Betrieb jedoch während der Baumaßnahmen nicht eingestellt wurde, obwohl fast zeitgleich unter ihm auch einer der größten Untergrundbahnhöfe Londons entstand.
Problemfall King´s Cross
Doch der Weg zum neuen King´s Cross war weit schwieriger als es sich zu Beginn sein Architekt John McAslan vorstellen konnte. Als er, der ehemalige Mitarbeiter Richard Rogers, 1997 den Architekturwettbewerb gegen Sir Norman Foster und HOK gewann, war nach einer Lösung gesucht worden wie Lewis Cubitts 1852 erbauter Bahnhof modernisiert werden könnte, um sein jährliches Fahrgastaufkommen von 40 auf 55 Mio. Menschen zu steigern. Von der alten Pracht eines der ältesten Bahnhöfe Londons, der nach Kriegszerstörungen nur teilweise wieder hergestellt worden war, war damals nur noch wenig zu erkennen. Diverse An- und Umbauten waren hingegen in den 1970ern gefolgt, die zudem seine klare Struktur um die beiden markanten Tonnendächer empfindlich störten.
Gewagt war John McAslans Konzept, der als einziger Wettbewerbsteilnehmer die markanten Stirnseiten des alten Bahnhofsgebäudes wieder freilegte und eine neue Erweiterung westlich der Bahnhofshallen hin zu St. Pancras vorschlug, auf Flächen, die jedoch nicht der Bahngesellschaft Railtrack gehörten. McAslan gelang es Railtrack zu überzeugen. Doch bald darauf wechselte der Bahnbetreiber nach mehreren Bahnunglücken und das Projekt ruhte mehrere Jahre. Erst um 2005, dem Jahr der Londoner Bombenanschläge, die auch die Stationen King´s Cross und St. Pancras trafen, nahm das Projekt wieder Fahrt auf. Die Bombenanschläge führten fast zeitgleich zur Erweiterung des Untergrundbahnhofs King´s Cross nach Nord-westen und einer Neubewertung von John McAslans Bahnhofserweiterung in gleicher Richtung. Erst jetzt wurde ihr Wert zur Verbindung beider Bahnhöfe wirklich erkannt, wo John McAslans neue „Western-Concourse“-Halle als Verteiler der Passagierströme in den Untergrund und nach St. Pancras an Bedeutung gewann. Um sie jedoch zu verwirklichen, standen John McAslan + Partner und die Ingenieure von Arup vor gewaltigen Problemen, da nun im Untergrund kaum mehr Raum für Fundamente war und zugleich der Denkmalschutz die Eingriffe in die historische Bausubstanz nahezu verbot.
Die Konstruktion des neuen Bahnhofs
Überaus klar konzentrierten sich alle architektonischen Eingriffe von John McAslan + Partner auf die Reparatur der alten Bahnhofsstruktur, den Wiederaufbau des teilweise zerstörten Nordwest-Flügels, das Freiräumen der Bahnhofshallen dank der Konversion aller Nebenräume für neue Serviceeinrichtungen sowie die Schaffung der Western-Concourse-Verteilerhalle mit 8 000 m². Nebenbei wurde im Nordostflügel ein zusätzlicher Bahnsteig 0 implantiert und über die Bahnsteige eine neue Fahrgastbrücke geschlagen, die nun mit
großem Schwung zum Western-Concourse führt und dort in einem eingestellten, 2-geschossigen Friendly Alien-Service-Baukörper endet. Entgegen dem neuen St. Pancras, der oft mehr einem attrakti-ven Gastro-Center als einem Bahnhof ähnelt, begegnen sich nun in King´s Cross Alt und Neu, Bahnhof und Konsum in einer selten gelungenen Symbiose.
Dreh- und Angelpunkt des Konzepts ist der neue Western-Concourse, eine halbrunde Verteilerhalle, die mit einem Radius von 57 m und 20 m Höhe zwischen Bahnhof und dem halbrunden viktorianischen Great Northern Hotel implantiert wurde. Konstruktiv unabhängig vom alten Bahnhof lastet das gewaltige S-förmig auf- und abschwingende Dach auf nur einer „Stütze“, einem gewaltigen Fachwerktrichter vor der Front des ersten Bahnhofhaupteingangs, in dem die Kassenhalle einzog. Nur an einer einzigen Stelle war dank der Trichter-Lösung ein größeres Fundament nötig, das dem Umstand kongenial Rechnung trug, dass sich die weite Kassenhalle der U-Bahnstation unter dem Western-Concourse befindet.
Von faszinierender Eleganz leitet der Trichter, von den Architekten auch als Pilz bezeichnet, bruchlos in eine radiale Rippenstruktur kombiniert mit einem Diagonaltragwerk (Diagrid) über. Bezaubernd leicht erstreckt sich das Tragwerk ähnlich einer Baumkrone über die Reisenden, die längst schon den Trichter als zentralen Treffpunkt für sich er-obert haben. Kräfte bis zu 600 t nimmt der Trichter am oberen Ende auf, vor allem Biegemomente, während 16 kleinere „Baumstützen“ am Rand des Dachperimeters nur Kräfte von bis zu 90t in horizontaler Richtung bewältigen müssen. Wozu die Ingenieure die Dachstruktur weitgehend selbsttragend konzipierten, die mit ihrer firmeneigenen strukturellen 3D-Analysesoftware GSA optimiert wurde. Auf eine möglichst modulare Bauweise bedacht, tragen nun nur 150 mm breite und 250 bis 450 mm tiefe Radialrippen das Dach, kombiniert mit den Röhren des Diagonaltragwerks mit 139 mm bis 219 mm Querschnitt, welche vor allem axiale Lasten aufnehmen.
Ruhe, aber auch viel dynamische Bewegung strahlt das weit geschwungene Dach aus, das fast alle Aufmerksamkeit auf den Licht durchfluteten Trichter zieht, wo die Eleganz der 16 „Baumstützen“ am Rand nur wenigen Besuchern ins Auge fällt. Während mit Bedacht alle konstruktiven Verbindungen zwischen den strukturellen Elementen den Blicken bewusst entzogen wurden, sodass keine einzige Schraube an der Unterseite sichtbar ist, zelebrieren diese von Arup als „Superbäume“ bezeichneten Stützen geradezu ihre Konstruktion mit weit auskragenden „Baumkronen“.
Entgegen der sonst modularen Dachkonstruktion handelt es sich hier um skulpturale Gussknoten, die bis auf die zwei gegenüberliegenden Knoten entlang der alten Bahnhofsfront identisch sind, welche signifikant höhere Lasten aufnehmen mussten. Ihre Form, 1,4 m langen Achsen mit bis 0,6 m Breite auf einer Basisplatte von 1,8 m auf 1,0 m wurde mittels eigener 3D-Modelle entwickelt.
Eine sympathische Erfolgsgeschichte
Unter der konstant wechselnden gekurvten Geometrie des Daches wird hier den Passagieren viel visueller Halt geboten, deren Ströme sich dank weniger gezielter Unter- und Einschnitte in die alte Bausubstanz von Bahnhof und Hotel ein attraktiver Wechsel von hohen und niedrigen Raumzonen bietet, welche sanft die Wege zu den verschiedenen Bahnhöfen weisen. Wozu auch der implantierte Friendly Alien-Baukörper beiträgt, den die Architekten als Hommage an Eero Saarinens TWA-Terminal in New York konzipierten und mit einem Kleid leuchtend weißen Kleinmosaiks versahen.
Der Rand als Schnittstelle zum alten Bahnhof und auch das Zentrum des Daches sind Teil einer perfekten Tageslichtinszenierung, die auch aus Gründen der Nachhaltigkeit Kunstlicht im neuen Bahnhof zu minimieren sucht. Die Transparenz des Daches lässt das Tageslicht mit einer gewissen Dramatik in den darunter liegenden Raum einfallen.
Was keineswegs einfach war nach den Londoner Bombenanschlägen des Jahres 2005, aber mit Sicherheitsglas und Polycarbonatfeldern gelöst werden konnte. Darüber hinaus gelang ihnen eine Photovoltaikanlage über den erneuerten Tonnendächern von Cubitts Bahnhof zu integrieren, die nun 10 % der Energie für den Bahnhofsbetrieb liefert.
Sehr organisch und kongenial konstruktiv wurde in nur 4,5 Jahren Bauzeit King´s Cross in einen sehr freundlichen Bahnhof des 21.Jahrhunderts transformiert, dessen viktorianische Architektur wieder ganz zur Geltung kommt, aber nun mit dem Western-Concourse um ein weiteres Meisterwerk ergänzt wurde. Selten wurden 547 Mio. englische Pound so vernünftig investiert, zumal nun hinter dem Bahnhof mit King‘s Cross Central auf 27 ha ein ganzes Stadtquartier neu entsteht. Fast hymnisch von der Londoner Presse gefeiert hat im Western-Concourse nun auch Harry Potters Bahnsteig 9 ¾ seinen Platz gefunden, wo sich nicht Wenige mit einem in der Wand verschwindenden Gepäckwagen ablichten lassen. Claus Käpplinger, Berlin, Webcode DBZ3P7AL