Elevated Mobility: integriert, individualisiert und digital vernetzt
Verkehrsinfrastrukturen – im Kern Straßen, Unterführungen und Brücken – ermöglichen den Aufbau, die Existenz und die Entwicklung komplexer (Stadt-)Gesellschaften. Gleichzeitig ist ihr prägender Einfluss auf viele Aspekte unseres Lebens den meisten erst seit einiger Zeit bewusst. Und: So, wie wir Verkehrsinfrastrukturen noch bis heute planen und bauen, kann es nicht weitergehen. Im Folgenden schreibt Univ.-Prof. Dr.-Ing. Harald Kloft, Leiter des Institut für Tragwerksentwurf, Universität Braunschweig, wie es anders gehen könnte, ohne dass Stillstand die Alternative wäre.
Verkehrsinfrastrukturen bilden seit jeher die Grundlagen der Urbanisierung. Schon zu römischen Zeiten bildete die Vernetzung von Städten und Dörfern durch Verkehrsinfrastrukturen auch das administrative wie ökonomische Rückgrat des Imperiums. Mit Beginn der Industrialisierung wurde die Fortschrittsidee zum Leitbild der modernen Industriegesellschaften. Technologische Errungenschaften wie die Dampfmaschine ermöglichten die Umwandlung von Wärmeenergie in Bewegungsenergie (Eisenbahn und moderne Schifffahrt), mit der Erfindung des Automobils entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts der motorisierte Individualverkehr und schuf den Bedarf für den Bau neuer Straßenverkehrsnetze und deren Integration in Städte und Landschaftsräume, deren Realisierung originäre Aufgabe des Bauingenieurwesens ist.
Obwohl in erster Linie zweckerfüllend, sind Verkehrsbauten auch immer gestaltprägend. Gleich, ob ein Brückenbauwerk über ein landschaftliches Tal zu führen oder eine Straßenbahnlinie neu in der Stadt zu verorten ist, immer sind Verkehrsinfrastrukturen in individuelle lokale Situationen zu integrieren und oft von hoher Sichtbarkeit. In der Vergangenheit war die individualisierte Planung von Infrastrukturbauten selbstredend und deren gestaltprägende Integration in den landschaftlichen oder urbanen Kontext galt als das kreative Epizentrum des Bauingenieurwesens. Die Ästhetik der Formgebung folgte dabei den individuellen Vorgaben der örtlichen Randbedingungen und dem Verständnis des materialgerechten Konstruierens. Insbesondere Brückenbauten sind heute Zeitzeugen von den jeweils vorherrschenden Bautechniken.
Und wo stehen wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Verkehrsinfrastruktur? Heutige Verkehrsbauten sind überwiegend von kontextloser Standardisierung geprägt, deren Verortungen entsprechend isoliert und monoton wirken. Jörg Schlaich benannte die Gründe hierfür schon vor vielen Jahren in einem Interview: „Weil die Materialien zu billig sind und die Arbeit zu teuer ist […] Schauen Sie sich den heutigen Brückenbau an: Trotz des enormen Fortschritts bei den Werkstoffen, der EDV bis hin zur Fertigung, werden unsere Bauten statt vielfältiger immer monotoner. Beton hat die herausragende Eigenschaft, in freie Formen zu fließen und braucht nicht nur als gerader Träger wie aus der Strangpresse zu kommen.“ [1]
In der Tat hat dieser Prozess der Monotonisierung von Infrastrukturbauten in den vergangenen Jahren sogar drastisch zugenommen. Zu den vielen vorhandenen, monofunktionalen Verkehrstrassen sind neue Bedarfe für die regenerative Energieerzeugung, -verteilung und -speicherung hinzugekommen. Leider werden die hierzu erforderlichen Infrastrukturen wiederum separat geplant und weitere neue Trassen in unsere Landschaften gebaut, statt deren bauliche Integration in vorhandene Trassen zu intensivieren. Der Klimaschutz ist unsere vorrangige Aufgabe im 21. Jahrhundert, und die emissionslose Mobilität ein entscheidender Baustein zur Klimaneutralität. Aber auch eine drastische Reduzierung des Ressoucen- und Flächenverbrauchs ist hierzu erforderlich.
Wie finden Infrastrukturen und Mobilität zukünftig zusammen? Es reicht sicher nicht, die Verbrennungsmotoren gegen Elektroantriebe auszutauschen und überall Ladestationen hinzustellen. Der Bedarf an Verkehrsinfrastrukturen wird in den kommenden Jahrzehnten weltweit weiter steigen. Gründe sind die stetig wachsende Weltbevölkerung, der Nachholbedarf von China und den Schwellenländern sowie die zunehmende Urbanisierung. Für die zukünftige Planung von Verkehrsbauten gilt, sie – neben der Einhaltung der technischen Vorgaben und Regelwerke – als kreative Gestaltungsaufgabe anzunehmen. Eine besondere Herausforderung wird dabei die Anpassung vorhandener innerstädtischer Verkehrsnetze an neue Mobilitätskonzepte und -technologien sein. Insbesondere in Deutschland folgte der Wiederaufbau unserer Städte nach dem 2. Weltkrieg den Visionen und Planungen für den motorisierten Individualverkehr. Obwohl bereits große Flächenanteile in den Städten von fahrenden und parkenden Autos beansprucht werden, kommt der innerstädtische Verkehr in den Stoßzeiten vielerorts zum Erliegen. Zwar stehen uns heute intelligente Leitsysteme und innovative digitale Technologien zur Simulation und Steuerung der Verkehrsströme zur Verfügung, aber in den meisten Städten ist schlichtweg kein Platz mehr vorhanden, um die Verkehrsflächen noch weiter zu vergrößern. Hinzukommt, dass neue Mobilitätsgruppen wie E-Fahrräder und E-Roller ihren Platz auf den vorhandenen Verkehrswegenetzen beanspruchen. Stadt- und Verkehrsplanungen reagieren oft hilflos durch das Aufteilen der Straßenflächen in Form farbig aufgebrachter Fahrspuren, in der Hoffnung, dass die Verkehrsführung dadurch geregelt wird. Dies funktioniert natürlich nicht. Die unterschiedlichen Anforderungen und Geschwindigkeiten der einzelnen Mobilitätsgruppen führen zu erhöhten Unfallgefahren in den hochfrequentierten Innenstädten. Synchron mit der kollabierenden innerstädtischen Mobilität geht die Lebensqualität in den Städten mehr und mehr verloren. Feinstaub- und Lärmbelastungen stehen diametral zu den hohen Miet- und Kaufpreisen für innerstädtisches Wohnen.
Wie bekommen wir die Lebensqualität in unsere Städte zurück und wie sehen die Stadträume der Zukunft aus? Wir brauchen grundlegend neue Mobilitätskonzepte und müssen insbesondere anders mit den begrenzten Flächen für Infrastrukturen umgehen. Der Lockdown zu Beginn der Corona-Krise, als der Verkehr in den Städten nahezu zum Erliegen kam, hat mehrere Erkenntnisse zu Tage gebracht: Erstens wurde einem bewusst, wieviel Platz die Autos und Straßen in der Stadt beanspruchen und was für ein tolles Gefühl es ist, einfach mitten auf den Straßen durch die Stadt zu laufen. Zweitens war erstaunlich, wie schnell sich die Luftqualität verbessert, wenn kein motorisierter Verkehr stattfindet. Und drittens hat sich aber auch gezeigt, wie tot und trist eine Stadt sein kann, wenn die Dynamik und Bewegung des städtischen Lebens fehlen. Mein Resümee ist: Wir müssen die innerstädtischen zweidimensionalen Verkehrsflächen zukünftig vielmehr als Stadträume betrachten, wo gleichzeitig Mobilität und städtisches Leben stattfinden können. Durch das Anordnen von Verkehrsinfrastrukturen in der Höhe könnte eine neuartige „Elevated Mobility“ geschaffen werden, die die Anforderungen der unterschiedlichen Mobilitätsgruppen berücksichtigt, ohne dabei mehr Fläche zu verbrauchen. Während wir den unterirdischen Bau von U-Bahnen schon vor Jahrzehnten in vielen Städten eingeführt haben, stecken im oberirdischen dreidimensionalen Straßenraum noch unentdeckte Potentiale. Insbesondere die erhöhte Verkehrsführung von Fußgängern, Rad- und E-Rollerfahrern ist mit leichten Konstruktionen realisierbar. Innovative digitale Planungs- und Fertigungstechnologien bieten hier völlig neue Möglichkeiten, die komplexen Formen der „Mobility Levels“ integriert und individualisiert umzusetzen. Bild 1 zeigt eine Visualisierung für die Integration von Mobility Levels in den Straßenraum am Willy-Brandt-Platz in Frankfurt am Main.
Natürlich gilt grundsätzlich, dass unsere Städte zukünftig emissionsfrei werden müssen. Auch hier bieten die Mobility Levels neue Möglichkeiten für eine integrierte Energieversorgung und digitale Vernetzung der innerstädtischen Elektromobilität. Die Idee einer Elevated Mobility würde zudem Räume für die Integration neuer innerstädtischer Stadtlandschaften und Plätze schaffen. Wer schon einmal in New York über die Highline gelaufen ist, kennt das erhabene Gefühl, sich über dem Verkehr und der hektischen städtischen Mobilität in seinem eigenen Rhythmus zu bewegen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Verkehrsinfrastrukturen auch im 21. Jahrhundert die Grundlage für unsere zukünftige Entwicklung bilden. Die singuläre, auf standardisierten Elementen basierende Planung von flächengreifenden Infrastrukturen stößt an die stadt- und landschaftsräumlichen sowie ökologischen Grenzen. Innovative digitale Technologien für die Planung und Bauausführung ermöglichen in Zukunft die individualisierte Integrationen von Verkehrsbauten in den urbanen und landschaftlichen Kontext, die gestalterisch, ökologisch und ökonomisch neue Möglichkeiten schaffen, um den Bau von Verkehrsinfrastrukturen als „Integrale Mobilitätsplanung“ zu verstehen und wieder zu einem Teil der Ingenieursbaukunst werden zu lassen. [2] Die Idee der Elevated Mobility lässt sich auch auf außerstädtische Verkehrswege übertragen.
Insbesondere Autobahnen sind prädestiniert, um weitere Mobility Levels in der Höhe anzuordnen (Bild 2). Statt die vorhandenen Autobahnen aufwendig in der Fläche zu verbreitern, wird durch die Elevated Mobility der Flächenverbrauch deutlich reduziert. Zudem bieten sich durch das Anordnen von Fahrbahnen in der Höhe weitere Chancen zur baulichen Integration von Funktionen, die derzeit alle separat geplant und gebaut werden. Beispielsweise können Lärmschutzwände einfach integriert werden oder auch Oberleitungen zum Energietanken von elektrischen Lastwagen können – statt an aufwendigen Mastkonstruktionen wie bei der eHighway-Teststrecke auf der A 5 bei Langen – einfach an der Unterseite der Mobility Levels angebracht werden. Es ist zu wünschen, dass die politischen Akteure in den Kommunen, Ländern und auf Bundesebene begreifen, dass die Fokussierung auf die Verkehrsplanung der Vergangenheit angehört und wir zukünftig eine „Integrale Mobilitätplanung“ brauchen. Die Idee der Elevated Mobility bietet größte Chancen für eine flächensparend integrierte, individualisierte und digital vernetzte Mobilität. Im Forschungsschwerpunkt „Stadt der Zukunft“ der Technischen Universität Braunschweig werden wir diesen Ansatz grundlegend erforschen.
[1] Kloft, H.: Gunnarsson, S.; Siegele, K.: Rückblick und Ausschau – Acht Interviews mit namhaften Ingenieuren. In: Deutsche Bauzeitung. Nr. 133 (1999) Nr. 12, S. 91 – 114.
[2] Kloft, H.; Hoyer, S.: Zum Entwerfen von Tragwerken. In: Stahlbau, Nr. 11 (2014) Vol. 83, S. 806-814