Nur wer die Vergangenheit im Auge behält, hat die Zukunft verdient
Das Ozeaneum in Stralsund

Der Museumsbau wartet auf mit Großaquarien, mit thematischen Ausstellungen zur Ostsee,
dem Weltmeer, der Erforschung und Nutzung der Meere sowie zu den Meeresriesen, den Walen.

Stralsund Altstadt 1988 – eine alte stolze Hansestadt, die jetzt begleitet vom nächtli-
chen Schreien und Fauchen wilder Katzen in sich selbst zusammenfällt. Das betrifft auchdas Quartier 66 auf der Aufschüttung der nördlichen Stralsunder Hafeninsel mit ihren pittoresken Speichern aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Sie war zu DDR-Zeiten als Sperrgebiet ausgewiesen und bis 1990 für die Öffentlichkeit nicht zugänglich – alles zusammen malad, marode, klinisch tot. Zwanzig Jahre später, im Jahre 2008, komplett ausgewechselte Stadtbilder. Nur wenige Städte und Orte der früheren DDR lassen das Prinzip blühender Landschaft fruchtbarer an den Tag treten lassen als hier. Nach der Wende wird die Kernstadt 2002 wegen hervorragender Sicherungs- und Sanierungsarbeit in den Status zum UNESCO-Welterbe erhoben. Die Insel nicht, aber sie wurde von der Hafennutzung partiell frei gesetzt für neue Nutzungen inmitten einer melancholischen Melange aus fragmentarischer Hafeninfrastruktur mit riesigen Speicherruinen. Es wuchs sehr schnell eine recht handfeste Mischung aus Hafenkneipen, dem Ex Schulschiff Georg Fock I und maritimem Tingeltangel heran. Motor des Quartiers ist das neue Ozeaneum; alles zusammen Vorpommerns neue Perle des Stadttourismus für Haupt- und Nebensaison.


Kräftige Sprache im Ausbau

Die Stärke der architektonischen Aufarbeitung liegt pikanterweise in der historischen Baulast und dem damit verbundenen Hauch von Nostalgie, der zwischen „schäbi chic“ und würdevollem Altern liegt. Zum Beispiel mit dem historischen Patchwork an Steinbelägen, vor allem alten kantigen Granitpflaster. Es sollte zu einem unterschwelligen und sinnvollem Katalysator werden, um den eigenwilligen Superstar Ozeaneum sanft zu integrieren. Auch in dessen Foyer wurde Granit gepflastert. Der Belag zieht sich auf der gesamten Grundstücksfläche durch, die Grenzen zwischen Außen- und Innenraum sind unterlaufen. Und: Damit wurde im Detail eine kräftige Sprache festgelegt für den Ausbau mit Treppengeländern aus verzinkten Drahtmatten ­– das ist weit entfernt von jeg-
licher Künstlichkeit eines üblichen Kunstmuseums. Im Gegenteil – das ist handfest und eben ohne Schwellen. Ein Haus, das im ersten Jahr seines Bestehens einen niemals erwarteten Besuchansturm erlebt – mit Schlangen bis zur 200 m entfernten „Georg Fock I“.


Segel und Kieselsteine

Das ist dann jeweils ein guter Moment für die Betrachtung der wehenden Außenhaut aus Stahl, die geschickt in Szene durch gläserne Fassadenstücke gesetzt wird. Ein scheinbarer Maßstabsprung im Material zum Backstein. Scheinbar. Die großformatigen, vorgebogenen Stahlbleche, die modernsten Containerschiffbaumuster folgen, wurden durch ein ortsansässiges Unternehmen produziert, geschnitten und gebogen. Schwingende Stahlbleche, die bis zu 16 x 3 m groß sind und überhaupt nicht monoton wirken. Ohne weitere Unterkonstruktion werden die Bleche punktweise an der Stahlkonstruktion des Gebäudes gehalten und spannen frei.
Es bedarf keiner übermäßigen Phantasie, die weißen Bleche (zumindest in der Fernwirkung) als Segel wahrzunehmen, und das ist wohl ein Grund dafür, diese exaltierte Fassade für passend und bodenständig zu halten.

Vielleicht auch, weil diese schwingenden Stahlblechfassaden recht kleinteilige Baukörper ummanteln. Das Gebäude erhielt vier Monolithe, die direkt aus dem didaktischen Museumskonzept entwickelt wurden – für die allgemeine Ausstellung, die Aquarien der Ostsee, die Aquarien der Nordsee und die Riesen der Meere. Besonders an der Stadtseite erzeugen sie ein Bild, wie es die Architekten sich wünschten: Kieselsteine am Strand, wenn es auch sehr große sind. Architektonisch aufgebunden wie ein Strauß werden die vier Baukörper des Hauses durch ein verglastes mehrgeschossiges Foyer: Das Erdgeschoss ist öffentlich, beherbergt neben den allgemeinen Nutzungen eines Museumsfoyers auch einen Shop und ein Café – ein oft überfüllter Marktplatz, doch das war im Mittelalter so üblich.

Über eine 30 m lange, frei spannende Rolltreppe gelangt der Besucher vorbei an echten Walskeletten quer durch das Foyer nach oben. Von dort bietet sich zunächst ein Blick über den Strelasund zur Insel Rügen und der neuen Rügenbrücke, auf die Kirchtürme der Altstadt, und in der Nahaufnah-
me zu den umgebenden Speichergebäuden und den Neubauvolumen. Möglich geworden durch Staffelungen oder Rücksprüngen. Die freie Form macht´s möglich. 


Von der Unendlichkeit der Meere

Oben erreicht der Besucher die allgemeine Ausstellung mit den Themen „Weltmeer, der Ostsee und der Nutzung und Erforschung der Meere“: eine Ouvertüre in tiefblauer Farbigkeit. Beide, Architekten und Ausstellungsmacher, erliegen nicht der Versuchung, ihre Künste in den Mittelpunkt zu penetrieren, der Held bleibt die Inszenierung. Dann in den Akten Zwei und Drei folgen die Wasserwelt in den beiden Aquarienkörper „Ostsee“ und „Nordsee“. Schauaquarien begleiten diese Reise durchs Wasser, ein bisschen zartes Disneyland-Feeling, wie es die Leute mögen, von der Kopie eines Hafenbeckens in Stralsund vorbei an der Kreideküste der Insel Rügen über das Kattegatt hinüber in die Nordsee mit Wattenmeer, Helgolandfelsen, bis ins Polarmeer.

Dabei wird mindestens zweimal so etwas wie eine Herzschlagbeschleunigung und Gänsehaut erzeugt; dann, wenn man dank heutiger Glastechnik unter der Wasseroberfläche, das heißt Aquariumsunterfläche, hergehen kann oder vor dem großen Schwarmfischbecken steht, das 2,6 Mio. l Wasser fasst. Durch eine 10 x 5 m große Scheibe erhält der Besucher Einblick in die „Unendlichkeit“ des Meeres. Der reale Heringsschwarm wird zur Gedankenbrücke zum literarischen „Schwarm“. Die Aquarien gruppieren sich um einen zentralen Wärter- und Technikbereich, der über kurze Wege und optimiertem Platzbedarf die Pflege und Bedienung der Becken ermöglicht. Der Besucherrundgang führt also unmerkbar um diesen Kern aus Aquarien. Es gelingt, die kleineilige Unterwasserwelt genauso gut herüberzubringen wie im vierten Akt die „Riesen der Meere“. Hier schweben in Originalgröße akribisch nachgebildete Wale, der 20 m hohe Raum des Gebäudeteils „Riesen der Meere“ wird, nur schwach erleuchtet, eine weitere Vorstellung der Unendlichkeit der Unterwasserwelt. Der Besucher ist sozusagen unten am Grund des Meeres angekommen.


Wie will, oder besser, wie kann ein so kompliziertes, komplexes Gebäude wie
das Ozeaneum nachhaltig sein? 

Es handelt sich ja nicht um Wohn- oder Bürogebäude, es gibt also keine vorgefertigten Energiesparkonzepte. Hier geht es also nicht um übliche Themen wie Flexibilität des Gebäudes und Tageslicht. Hier ist der einzig entscheidende Parameter der Energieverbrauch. Deshalb ist das ganze Gebäude so konzipiert, dass z. B. Leitungsstränge und der Einsatz elektrischer Energie, die inzwischen die teuerste ist, minimiert werden können.


Ist der kalkulierte Verbrauch schon evaluiert worden?

Wir haben noch keine aktuelle Erhebung bei vollem Betrieb machen können. Aber es gibt eine Simulation; und im Vergleich und Zielwert mit bestehenden Aquarien liegen wir tiefer, also günstiger. Dafür haben die Leitungsführungen für die Beschickung der Aquarien geführt: Wir haben die Aquarien nach oben gehoben und entsprechend die Technik darunter geschoben, und zwar so, dass ein direkter, kurzer Austausch erfolgt. Wir sind im gesamten Haus halogenfrei, denn wir haben für die Aquarien LED-Techniken angewendet. Wir haben die Raumzuschnitte optimiert, um Lüftungs- und Luftvolumina klein zu halten. Es sind also sehr viele passive Maßnahmen passiert. Und man sieht das dem Gebäude nicht an. Mit einer Ausnahme... 


... ja, vielleicht wird Ihr grünes Anliegen in Ihrer exaltierten Fassade dokumentiert?

Ja. Wir wollten ursprünglich recycelten Schiffsstahl verwenden. Das war insofern naiv, als wir zusammengerechnet haben, was es an Primärenergieeinsatz bedeutet hätte, irgendwelche abgewrackte Stahlteile aus Asien hierher zu führen. Stattdessen war dann unter dem Ganzheitsaspekt die Erstellung der Stahlfassade hier auf der Werft in Stralsund hervorragend. Aber – das muss man zugeben – es ist kein messbarer, klassischer Ansatz wie im Bürohausbau.


Sie spielen ein gewagtes Spiel mit den Formen an dieser exaltierten Stelle der städtischen Küstenlinie, an der schönsten deutschen Stadt, die direkt an der See liegt; warum so und nicht anders?

Die Frage war ja, wie schaffe ich es, ein solches Volumen einzufügen; wir wagten es über den funktionellen Ansatz – über das Funktionsdiagramm – und erkannten, dass eine Aufteilung auch didaktisch Sinn macht und so gelangten wir zum Thema Maßstäblichkeit. Und: Wie ordnen wir das Gebäude zu? Ist es Teil der Altstadt? Wir haben uns
dafür entschieden, das Ozeaneum mit der Stadt nach unserer Bürophilosophie zu verknüpfen, so dass man sich gegenseitig stützt, sich nicht im Ornamentstil anpasst, sondern zeitgenössisch die städtebauliche Situation stützt. Das funktioniert dort.


Wenn ich an diese Bürophilosophie anschließen darf: Welche Rolle spielt das Bauwerk im Œve von Behnisch Architekten? Ist es etwas Neues, oder die Summe bekannter Leistungsmerkmale?

Zunächst einmal ist die Bauaufgabe eines Meeresmuseums für uns Süddeutsche etwas ganz Besonders. Es hat für die Geschichte des Büros auch eine Bedeutung, weil es noch unter Behnisch Senior begonnen worden ist. Ein Projekt, das in beiden Welten verwurzelt ist. Darüber hinaus ist es ein innerstädtisches Projekt, von denen bisher bei uns nicht so viele von Bedeutung gibt.


Wenn Sie erklären müssten, was das Wesentliche ist – Konstruktion, der Raum, die Nachhaltigkeit - was ist das Wichtigste? In welches Thema haben Sie besonders
investiert?

Ganz sicherlich im Räumlichen. Die Architektur entsteht über ganz viele Schichten und hier ist es so, dass die Konzentration auf den Raum in vielen Details durchgezogen wird, also: die Details sind reduzierter, der Materialeinsatz ist zurückgenommen. Es soll nichts vom räumlichen Erlebnis ablenken; nicht nur vom Innenraum, sondern auch nicht von der räumlichen Beziehung zur Stadt. Der Besucher soll nicht im Museum abtauchen und wegen der interessanten Exponate den Bezug zum Ort verlieren. 


Was ist nun unique am Ozeaneum – so fordern es ja Bauherren, Bürgermeister und Kritiker – an Ihrem Bauwerk?

Unsere Arbeit an einer räumlich gekrönten großflächigen Fassade. Das haben wir so noch nicht gemacht. Aber wie es Vorbild für andere Projekte sein kann, das hängt von den Folgeaufträgen ab.


Hätte man das Gebäude so vor zehn Jahren bauen können?

Was die Energiebilanz betrifft nein, was die Fassade betrifft, ja, weil es eigentlich bekannte Schiffsbautechnologie ist, das ist keine Raketentechnologie, aber die Übertragung auf die Fassadentechnik ist neu.

Die strenge Wettbewerbsausschreibung präjudizierte verbal ein solches Ergebnisses nicht: „Mit dem Ozeaneum erweitert das Deutsche Meeresmuseum in Stralsund als größtes naturkundliches Museum der deutschen Ostseeküste seine bisherigen Standorte um einen Museumsneubau mit Großaquarien und thematischen Ausstellungen zur Ostsee, dem Weltmeer, der Erforschung und Nutzung der Meere sowie einer Ausstellung zu den Riesen der Meere“. Nach dieser so ernsthaften Auslobung ein solches sinnliches Ergebnis zu erzielen, das die gute alte Hansestadt zum Schwingen bringt – ist den Architekten nach der Formel: „2 x Behnisch“ geschuldet. Ein architektonisch sich aufbäumendes Naturkundemuseum mit Großaquarien, das sich als weiße Assemblage in die Ziegelgefüge der Hansestadt mit seiner weitestgehend erhaltenen Stadtstruktur und der Hafeninsel mit Speichergebäuden perfekt eingliedert. Ja mehr noch, die wohl sensationellste Kulisse einer deutschen Ostseehafenstadt verzaubert und in die Moderne trägt: Den Romantiker Caspar David Friedrich im Herzen und die technologischen Möglichkeiten der NASA vor Augen.

Die Architekten haben mit ihrer grundsätzlichen Aufteilung, also einem „Teile und Herrsche“, bei den themenorientierten Baukörper Siege errungen – für die Besucher, denen eine perfekte Orientierung geliefert wird. Für die Kuratoren, die sozusagen ein „Vier in Einem“-Museum erhalten und es prächtig vermarkten können. Und für die ganze Stadt, weil das Museum bei diesen Flächenansprüchen ein
einziger Mega-Baukörper das Weichbild der Stadt empfindlich verletzt hätte, diese Landschaft mit Segeln aber so maßstäblich bleibt, dass sogar ein Caspar David Friedrich seine Freude hätte und zum Pinsel greifen würde. Diese moderne Maßstäblichkeit, die sich
aus der historischen entwickelt, ist von allen Seiten durchgehalten. Grässliche Rückseiten wie beim Peter Cookschen Grazer Kunsthaus gibt´s nicht. Danke dafür.

Mögen ja außen, was sinnvoll ist, die Ausstellungszonen verschlossen wie unter dem Panzer eine Schildkröte wirken, verschenken die Architekten in Wahrheit innen immer wieder Zimmer mit
Aussicht. Das ist in dieser Backsteinstadt immer ein willkommenes Geschenk, aber an jener Stelle, wo das Haus über den Straßenraum ragt, sollte der Besucher kurz dem Diktat des perfekten Rundweges entfliehen und hinaus auf die See schauen. Und er erblickt Ziegelsteine aus zig Jahrhunderten: feine glasierte, schäbige aber lebendige, zugemauerte Fensterrundungen, Brandmauerabschnitte, das wärmt die Seele des Baumeisters, schärft den Blick zurück in die Stralsunder Baugeschichte, um im nächsten Moment wieder die Räume von morgen im Ozeaneum zu genießen. Das Bauwerk ist technisch, konstruktiv und ikonographisch ein Plädoyer für die freie Form als Additiv im Bestand. Was die Raumerlebnisse innen betrifft, ein Fortschritt gegenüber der Akademie am Pariser Platz in Berlin; was die Benutzbarkeit der Ausstellungsräume betrifft wohl auch. Es ist das Werk beider Behnischs, Günter und Stefan, und ihren Mitstreitern. In dieser Konstellation wohl letztmalig. Alle Texte: Dirk Meyhöfer, Hamburg

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