Vorsichtige Horizonterweiterung
Frauen denken anders als Männer. Ja. Aber fragt man Frauen heute nach ihrem Selbstverständnis aus Architektin beispielsweise, antworten viele, dass diese Frage in eine Richtung ziele, die sie nicht für wesentlich halten. Und manche heißen auch lieber „Architekt“.
Das mag verwundern insbesondere angesichts der in dem hier vorliegenden Band gesammelten Biografien von Frauen, die tatsächlich andere Themen in Fokus hatten als ihre Kollegen und Ehemännerkollegen. Ganz offensichtlich hat sich die Frage nach der Rolle des Geschlechts heute auf eine Ebene verschoben, auf der sehr theoretisch und in gewisser Weise die Geschichte der Emanzipation als abgeschlossen diskutiert wird. Da erscheint es nützlich, das Abgeschlossene noch einmal aufzubrechen und sich erneut auf das einzulassen, was die biografischen und damit natürlich auch die gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit von vor über 100 Jahren waren. Der Band, der sich als zweiter Teil einer größeren Untersuchung zur Rolle der Frau als Planerin und Theoretikerin des Städtebaus versteht, holt nun die Biografien von neun Frauen hervor und zeigt zu diesen eine kleine Auswahl aus ihren Schriften. Die Auswahl reicht dabei von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Es kommen zu Wort u. a. Adelheid Poninska, Sibyl Moholy-Nagy, Myra Warhaftig, aber auch die Chinesin Wenyuan Wu (Büro APECLAND), eine Zeitgenossin. Dass die in Auszügen abgedruckten Texte auch mal unübersetzt bleiben (englisch, französisch und italienisch) macht das Studium aus Ermangelung von Sprachkenntnissen nicht gerade leicht. Hier dem Leser das Original anzubieten, macht wenig Sinn.
Ob man in der Lektüre der Texte aber auch tatsächlich das andere Denken findet, ein Denken, das nicht dem Klischee des typisch Weiblichen folgt, ist schwer zu sagen. Denn überraschend häufig sind die Themen der fortschrittlich schauenden Frauen Familie, Hausarbeitseffizienz oder der Schmuck einer schmucklosen (tristen?) Männerwelt. Das können die einen enttäuschend finden, andere sehen es als eine vorsichtige Weitung eines Horizonts, der, bisher vom Männerblick eingeengt, den Diskurs über die Stadt und das Leben in ihr bis heute dominiert. Be. K.
Katia Frey und Eliana Perotti
(Hrsg.), Reimer Verlag,
Berlin 2019, 360 S., 45 sw-Abb.,
49 €, ISBN 978-3-496-01567-3