„Wie neu sind
‚Neue Materialien’?“
zum Thema „Materialien“
Der Begriff „Neue Materialien“ steht heute oft im Raum wie eine Zauberformel, die verspricht, altbekannte Probleme mit neuen, wundersamen Rezepturen zu lösen. Kein Material ist jedoch wirklich „neu“. Alle verfügbaren Werkstoffe basieren auf Ressourcen, die bereits seit Jahrtausenden auf unserem Planeten vorhanden sind. Neu sind aber viele Technologien, mit deren Hilfe wir Materialien zu ganz neuen Bauprodukten verarbeiten, kombinieren, formen oder fügen können.
Neben den Möglichkeiten digitalisierter Herstellungstechniken hat sich auch der Maßstab der Materialverarbeitung geändert. Adaptive Oberflächen wie zum Beispiel Gläser, die sich bei Sonneneinstrahlung als Sonnenschutz eintrüben, basieren auf Beschichtungen im Mikro- oder Nanobereich, die mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar sind. Die „Authentizität“ der Materialien ist somit dahin. Stahl mag aussehen und sich anfühlen wie Metall, seine Oberfläche kann aber aus einer Nano-Flüssigglasschicht bestehen, die ihn vor Verschmutzung und Kratzern schützt. Stahl und Glas sind beide keine neuen Materialien, lediglich der Maßstab der Verarbeitung und die Kombination der Komponenten sind neu und lassen einen Hybridwerkstoff mit verbesserten Eigenschaften entstehen.
Triebfeder bei der Entwicklung neuer Materialien ist selten der eher konservative Bausektor. Branchen wie Automobil- oder Flugzeugindustrie stehen unter einem wesentlich höheren Innovationsdruck, um den Markt zu bedienen. Durch Materialtransfer halten dort entwickelte Produkte zwar auch Einzug in das Bauwesen – zum Teil aber mit enormer Verzögerung. Als Beispiel sei das hochdämmende Aerogel genannt, das bereits 1930 als nanoskaliger Silikatschaum entwickelt wurde und seit den 1950er Jahren zu Dämmzwecken in der Raumfahrt eingesetzt wird. Das extrem leichte und hoch dämmende Material wurde erst vor kurzem – ein dreiviertel Jahrhundert nach seiner Entwicklung – in ein marktfähiges Produkt für die Baubranche überführt, wo es nun als effizientes, transluzentes Dämmgranulat Anwendung findet.
Woran liegt diese Behäbigkeit der Branche? Natürlich müssen Bauprodukte, die einen hohen Anspruch an Qualität und Lebensdauer haben, zahlreiche Materialtests und Zertifizierungen durchlaufen. Aber dies ist bei hochtechnisierten Industrien wie dem Flugzeugbau nicht anders. Flugzeuge oder Autos werden allerdings in Serien gebaut, die ein gesichertes Absatzvolumen haben; Gebäude dagegen sind stets Unikate. Ohne gesicherte Nachfrage in Entwicklungsvorlage zu gehen ist für die Firmen ein nicht zuletzt finanzielles Risiko. Darüber hinaus stehen singuläre Architekturprojekte meist unter Kostendruck und straffem Zeitplan, so dass im Ernstfall kaum Zeit oder Budget vorhanden ist, projektbezogen neue Materialien zu entwickeln und zu testen.
Vor dem Hintergrund nachhaltiger Entwurfskonzepte geraten auch ganz traditionelle Materialien wieder neu in den Fokus. Nachwachsende Rohstoffe wie Flachs, Schilfrohr oder sogar Seegras sind hervorragend als Dämmmaterial geeignet. Sie wurden in traditionellen Bauweisen schon seit Jahrhunderten eingesetzt. Die Naturmaterialien werden inzwischen als „neue“, marktgerechte und getestete Bauprodukte angeboten. Trotzdem ist der Anteil von Naturdämmstoffen am gesamten Dämmstoffmarkt noch verschwindend gering. Die Nachfrage bestimmt hier das Angebot. Dies ist einer der Knackpunkte für den Erfolg neuer Materialkonzepte: der Austausch und die Kommunikation zwischen Produzenten und Planern, um die Bedürfnisse beziehungsweise das Potential der jeweils anderen Seite zu identifizieren. In den Schubladen der Hersteller lagern oft die erstaunlichsten Material-Schätze, die nur darauf warten, als „neue“ Materialien entdeckt zu werden.
Die Architektin
Christiane Sauer ist Architektin und Materialspezialistin. Sie ist Gründerin des Berliner Büros Formade – architecture & materials. Der innovative Einsatz von Material im architektonischen Kontext steht im Fokus ihrer Arbeit, die von projektbezogener Materialberatung über Materialentwicklungen bis zu architektonischen Planungen geht. Zum Kundenkreis gehören sowohl Gestalter als auch Materialhersteller und Industrie. Christiane Sauer unterrichtet an internationalen Universitäten wie Cornell University NY und veröffentlicht regelmäßig in Fachzeitschriften und Fachbüchern. Ihr jüngstes Buch „Made Of... - Neue Materialien für Architektur und Design“, erschien 2010 im Gestalten Verlag, Berlin. www.formade.com