Material mit Qualitäten

DBZ-Heftpartner Graft Architects, Berlin

Blickt man auf den Diskurs und die Publikationen der letzten Jahre, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich in der Architekturbranche eine Art „Betonscham“ ausgebreitet hat. Aufgrund des hohen Energiebedarfs bei der Herstellung und der Endlichkeit der benötigten Rohstoffe hat der Baustoff den Stempel der Untauglichkeit aufgedrückt bekommen. Doch hat Beton dies verdient, nach dem er uns lange so treue Dienste geleistet hat?

Die omnipräsente Verbreitung von Beton, vor allem in seiner Ausprägung als Stahlbeton, ist nicht nur auf seinen kostengünstigen Preis zurückzuführen, sondern vor allem doch auf seine positiven baulichen Eigenschaften. Die große Freiheit in der Formgebung, die erprobte und zuverlässige Belastbarkeit und seine wandelbare Oberfläche machen den Beton zu eben jenem idealen Baustoff, der die Entwicklung der modernen Architektur in ihrer Schönheit und Innovationskraft begleitete und prägte.

Nachdem man sich nach der Wiederentdeckung der bindenden Kraft des Zements im 18. Jahrhundert vor allem die konstruktiven Möglichkeiten des Betons, etwa für Gewerbebauten, zu Nutze machte, entwickelte sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auch eine Wertschätzung für die ganz eigene Atmosphäre und Ästhetik des synthetischen Steins. Die unglaubliche Bandbreite seines Ausdrucks, vom streichelweichen Sichtbeton bis zur aufgerauten, farbigen Oberflächenmanipulation, entspricht der unbegrenzten Fantasie der Architekturschaffenden.

Hinzu kommt die Tatsache, dass sich die mechanischen Eigenschaften, die Dichtigkeit und die Dauerhaftigkeit des Betons an die jeweilige Bauaufgabe anpassen lassen. Jedes Material, ob Holz, Lehm oder Myzele, hat seine Stärken und Schwächen und wann welches eingesetzt wird, sollte von diesen Eigenschaften abhängig sein, denn nur so lassen sich dauerhafte und damit nachhaltige Bauwerke schaffen.

Die Schattenseite des Betons zeigt sich somit vor allem in seiner Herstellung, bei der enorme Mengen an Energie benötigt werden und damit in ebensolchem Umfang das klimaschädliche CO2 freigesetzt wird. Doch kann die industrielle Herkunft des Betons und seine große Verbreitung auch zur Lösung werden, wenn ebendieser Prozess auf systemische Weise verbessert wird. Der Betrieb der Werke mit erneuerbaren Energien und die Speicherung und Weiternutzung des emittierten CO₂ sind dabei gangbare Wege, wie sie zum Beispiel das CEMEX-Zementwerk im brandenburgischen Rüdersdorf umsetzt.

Denn entlang der Devise von reduce – reuse – recycle zeigen sich auch beim vermeintlich festgefahrenen Beton noch reichlich Optimierungschancen: von Material-Einsparung durch Infraleichtbeton oder innovative Tragwerke wie der von Mike Schlaich entwickelten Kappendecke, Material-Wiederverwendung dank ultrafestem Carbonbeton und modularer Konstruktion (ein Beispiel ist das Innovationslabor Grüze in Winterthur) bis zum Material-Recycling durch R-Beton, der von Seiten der Bauverwaltungen und Bauunternehmen immer mehr Akzeptanz erfährt. Das altbekannte Material ist sowohl in der Herstellung als auch im Einsatz einer beständigen Weiterentwicklung unterworfen, die ein finales Urteil über seinen Einsatz verwehrt.

Der Blick auf die internationale Situation zeigt dabei, dass auf diesen kostengünstigen, erprobten und variablen Baustoff nicht verzichtet werden kann, wenn in den Entwicklungs- und Schwellenländern im notwendigen Umfang neue Wohnungen, sichere Infrastruktur und zugängliche Bildungs- und Gesundheitsangebote entstehen sollen. Hier entlädt sich ein gewaltiger Entwicklungsdruck und ein ebensolches Bauvolumen, für das jene Innovationen aus dem Bereich Beton dringend benötigt werden. Alternative Baustoffe können in diese beschleunigte weltweite Entwicklung eingepflegt werden, aber den Werkstoff Beton nicht ausreichend skalierbar ersetzen. Man stelle sich vor, die deutsche Bauwirtschaft könnte hier nicht mit Verzichtserklärungen, sondern mit innovativen Patenten und neu gedachten Lösungen aktiv sein!

Die Fehler, die in der Bauwirtschaft, der Stadtplanung und mit gedankenloser Architektur gemacht wurden, sollten nicht dem Material angelastet werden. Wenn Gebäude ihre Nachhaltigkeit durch eine lange Zeit der Nutzung beweisen, so ist die Aufgabe klar: Wir müssen flexibel, identitätsstiftend und schön bauen, so dass die Menschen ihre Häuser lieben und erhalten. Wir denken, dass die Projekte in diesem Heft diese Aspekte widerspiegeln und beispielhaft für gutes Bauen mit Beton stehen.

Wolfram Putz und Thomas Willemeit
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