Materialwahl und Kreislaufwirtschaft
Fakt ist: Will man bei der Entwicklung hin zur Klimaneutralität vorankommen, fällt dem Bausektor eine Schlüsselrolle zu. Um hier zu einer Reduktion des CO2-Ausstoßes zu kommen, ist es unabdingbar, materialeffizienter, rückbaufreundlicher und recyclinggerechter zu planen und zu bauen. Kann der Stahl-Modulbau hier eine Vorreiterrolle einnehmen?
1) Mit einer neuen Methode zur Altstahlbestimmung mittels Funken-Emissions-Spektoskopie soll die Stahlbrücke einer stillgelegten S-Bahn reaktiviert werden
Foto: Jan Ahrenberg / DBZ
Mit dem „Green Deal“ verfolgt die europäische Kommission das Ziel, den existenziellen Bedrohungen durch Klimawandel und Umweltzerstörung entgegenzuwirken und Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent zu entwickeln. In einem Aktionsplan werden zentrale Maßnahmen für eine effizientere Ressourcennutzung und somit für den Übergang zu einer sauberen und kreislauforientierten Wirtschaft beschrieben. In diesem Kontext nimmt die Bauindustrie eine Schlüsselrolle ein, da sie einen beachtlichen Teil des weltweiten Energieverbrauchs und CO2-Ausstoßes verursacht (United Nations Environment Programme, 2020). Der enorme Ressourcenverbrauch ist mit einem erheblichen Abfallaufkommen und entsprechenden Schadstoffemissionen verbunden, da nur Bruchteile der im Bauwesen verwendeten Werkstoffe aus einer Kreislaufwirtschaft kommen. Der Gesamtbestand von Bauwerken in Deutschland kann als Wertstofflager angesehen werden, in dem laut Umweltbundesamt 50 Mrd. wertvoller Ressourcen über unterschiedlich lange Zeiträume gebunden sind.
In Zukunft müssen Bauwerke möglichst materialeffizient, rückbaufreundlich und recyclinggerecht konzipiert und gebaut werden, sodass durch die Wiederverwendung von Bauteilen und das Recycling von Baumaterialien Abfallaufkommen, CO2-Emissionen, Energiebedarf und Flächenverbrauch (für die Rohstoffgewinnung und die Deponierung) reduziert werden können (Dechantsreiter, März 2021).
Da die meisten Stahlkonstruktionen z. B. aufgrund von Gebrauchstauglichkeitsanforderungen sowie konstruktiven Vorgaben ohne Inanspruchnahme der plastischen Materialreserven oder auch aufgrund von üblichen Überfestigkeiten mit beträchtlichen Sicherheitsmargen ausgelegt sind, wird ein großer Teil der Bauteile aus dem Verkehr gezogen. Selbst wenn ihre Qualität oder ihr Zustand dem von neuhergestellten Konstruktionen identisch ist oder zumindest sehr nahe kommt. Um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen, müssen daher nicht nur die Konzepte des Recyclings und der Wiederherstellung, sondern auch die Wiederverwendung von Produkten in einer Zeit erheblicher technologischer Veränderungen vorangetrieben werden. Hierzu werden im bauaufsichtlich geregelten Bereich dringend konkrete Regelungen benötigt. Der Raumzellenbau bietet in diesem Kontext über die mögliche Wiederverwendung einzelner Bauteile bis hin zur gesamten Raumzelle ein großes Potenzial.
Strategien der Kreislaufwirtschaft
Als „Circular Economy“ wird ein Modell bezeichnet, bei dem Wirtschaftswachstum nicht mit der Ausbeutung und dem Verbrauch von natürlichen, nichtregenerativen Ressourcen einhergeht. Die übergeordneten Ziele der Kreislaufwirtschaft sind eine ressourceneffiziente und nachhaltige Verwendung von natürlichen Rohstoffen, deren Weiter- und Wiederverwertung innerhalb eines Kreislaufsystems und die Vermeidung von Abfällen.
Verschiedene Studien haben Strategien zur Kreislaufwirtschaft identifiziert und nützliche Schemata und Visualisierungen bereitgestellt. An dieser Stelle werden die zehn Kreislaufwirtschaftsstrategien aus Potting, Hekkert, Worrell, & Hanemaaijer (2017) genannt, die im Englischen mit den Buchstaben „Re“ beginnen und in Kuhnhenne, Pyschny, Bartsch, & Richter (2022) ausführlicher erläutert werden:
1) Refuse = Ablehnung eines Produkts und Ersatz durch neuartige Produkte
2) Rethink = Umdenken und Intensivierung der Produktnutzung
3) Reduce = Steigerung der Material-, Rohstoff- und Energie-effizienz
4) Reuse = Wiederverwendung
5) Repair = Reparatur von defekten Produkten und Weiternutzung
6) Refurbish = Aufarbeitung von Produkten und Weiternutzung
7) Remanufacture = Nutzung von Teilen eines defekten Produkts in einem neuen Produkt mit der gleichen Funktion
8) Repurpose = Nutzung von Teilen eines defekten Produkts in einem neuen Produkt mit anderer Funktion
9) Recycle = Wiederverwertung (zum gleichen Produkt) oder Weiterverwertung (zu einem anderen Produkt) eines Materials
10) Recover = Verbrennung von Materialien zur Energiegewinnung
Wiederverwendung von Stahl im Bauwesen
Stahl ist unbestritten eines der wichtigsten Materialien der modernen Infrastruktur und wird auch in Zukunft ein wichtiger Konstruktionswerkstoff in den Bereichen Verkehr, Maschinenbau und Bauwesen sein. Allerdings ist die Stahlindustrie heute für ca. 20 % der weltweiten industriellen CO2-Emissionen verantwortlich (International Energy Agency, 2019), und es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Stahlverbrauch aufgrund des massiven Bedarfs für den Auf- und Umbau der Infrastruktur zurückgehen wird.
Die bereits eingeleitete Umstrukturierung der Eisen- und Stahlproduktion hin zur wasserstoffbasierten Direktreduktion und Erhitzung (Bhaskar, Assadi, & Nikpey, 2020) wird zu einer erheblichen Reduktion der CO2-Emissionen führen. Dieser Prozess erhöht jedoch signifikant den Bedarf an erneuerbaren Energien und Wasserstoff. Ein Teil des Stahlbedarfs kann durch das (energieintensive) Recycling von Schrott gedeckt werden. Für die Zukunft stellt sich daher die Frage, ob und wie Stahl wiederverwendet werden kann, um den energieintensiven Recyclingprozess vermeiden zu können (Abb. 2).
2) Kreislauf von Stahlprodukten auf konventionelle
Weise mit Einschmelzen (rot) und Alternative über Wiederverwendung durch Prüfung und Aufbereitung (schwarz)
Derzeit gibt es keine gültigen Richtlinien zur Wiederverwendung von Stahlbauteilen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch, dass die Idee zur Wiederverwendung nicht neu ist. Die Wiederverwendung von Baustahl bzw. Stahlbauteilen wurde bereits vor 75 Jahren in Normen adressiert. So findet man Richtlinien für die Verwendung von Altstahl bereits in DIN 1050 aus dem Jahr 1947 (DIN 1050 Blatt 2: „Altstahl im Hochbau – Richtlinien für Aufarbeitung und Verwendung“, 1947).
Demnach handelt es sich bei Altstahl um „aus zerstörten Bauteilen oder Bauwerken gewonnenen Baustahl“ (z. B. Stabstahl, Formstahl oder Bleche). Dieser Altstahl darf nach DIN 1050 Blatt 2: „Altstahl im Hochbau – Richtlinien für Aufarbeitung und Verwendung“ (1947) prinzipiell in anderen Bauteilen mit vorwiegend ruhender Belastung wiederverwendet werden, wenn eine bestimmte Kennzeichnung und Markierung in haltbarer Farbe sowie das Firmenzeichen auf den entsprechenden Bauteilen angebracht werden (Abb. 3).
3) Beispiel für eine Kennzeichnung von wiederverwendetem Stahl nach (DIN 1050 Blatt 2: „Altstahl im Hochbau – Richtlinien für Aufarbeitung und Verwendung“, 1947)
Von der Bauaufsichtsbehörde ist nach DIN 1050 Blatt 2: „Altstahl im Hochbau – Richtlinien für Aufarbeitung und Verwendung“ (1947) zu überwachen, dass Altstahl grundsätzlich nur von zugelassenen Firmen mit einem entsprechenden Fachingenieur gewonnen und verarbeitet werden darf.
Altstahl, der über 25 % seiner ursprünglichen Dicke durch Korrosion verloren hat, sowie verbrannter oder verzunderter Stahl dürfen nicht für tragende Bauteile wiederverwendet werden. Ausnahmen können erfolgen, wenn dem Fachingenieur die spätere Verwendung des gewonnenen Altstahls genau bekannt ist.
Der gewonnene Stahl darf mit einer geringen Verformungsgeschwindigkeit kalt gerichtet werden, wenn die Dehnung bzw. Stauchung an den Stellen der stärksten Krümmung nicht größer als 10 % beträgt oder ein definiertes Stichmaß in Abhängigkeit der Bauteildicke nicht überschritten wird. Bei erforderlichen Schweißarbeiten müssen kaltverformte Stellen vor dem Schweißen normalgeglüht werden. Stähle aus der Zeit vor 1900 dürfen nicht geschweißt werden.
Im Bereich der Forschung wird die Entwicklung von Lösungen zur Wiederverwendung von Stahl bzw. Stahlkonstruktionen zunehmend gefördert. So wurde bspw. im Rahmen des Bahnprojekts „i2030 – Mehr Schiene für Berlin und Brandenburg“ (Projekthomepage i2030, 2022) ein Verfahren entwickelt, um die Qualität und Güte des Altstahls einer stillgelegten Bestandsbrücke mithilfe von zerstörungsfreien Methoden zu prüfen (Abb. 1). Die Brücke ist ein Teil der ehemaligen Siemensbahn, wurde 1929 fertig gestellt und ist seit den 1980er-Jahren stillgelegt. Sie steht unter Denkmalschutz und soll nun wieder in Betrieb genommen werden. Bei den Prüfverfahren wird die chemische Zusammensetzung des Stahls durch mobile Funken-Emissions-Spektroskopie (OES) ermittelt, wobei in kurzer Zeit viele Messstellen betrachtet werden können. Über die chemische Zusammensetzung konnten in dem Projekt Rückschlüsse auf die Stahlgüte gezogen werden (Projekthomepage i2030, 2022).
Vor diesem Hintergrund initiiert das Institut für Stahlbau der RWTH Aachen zurzeit ein Projekt, in dem technische Möglichkeiten zur Ist-Zustandsbewertung auf Werkstoff- und Strukturebene sowie erweiterte sicherheitstheoretische Untersuchungen durchgeführt und ganzheitlich bewertet werden sollen. Darüber hinaus sollen Handlungsempfehlungen zur Berücksichtigung der Wiederverwendung von Bauteilen bei der Planung und Bemessung von Neubauten geprüft und entwickelt werden.
Raumzellenbau an der RWTH Aachen
Ein großer Vorteil des Raumzellenbaus ist es, dass durch die demontagegerechte Konstruktion selbst komplette Gebäude zurückgebaut und wiederverwendet werden können. Dies beinhaltet nicht nur Raumzellen mit Böden, Wänden und Tragkonstruktion, sondern auch einzelne Bauteile wie Fassaden- und Wandelemente oder Fensterrahmen. Durch den hohen Marktanteil von Raumzellenbau in Stahlrahmenbauweise liegt hier ein großes Potenzial für die Wiederverwendung von Stahl im Bauwesen, das auch heute schon teilweise genutzt wird.
Am Institut für Stahlbau der RWTH Aachen University wird bereits seit über 20 Jahren in den Gebieten „Modulares Bauen“ und „Nachhaltiges Bauen“ geforscht. Gleichzeitig wurde im Jahr 2019 das Center Building and Infrastructure Engineering (CBI) als Kompetenzzentrum der vier Institute Baustoffforschung, Massivbau, Stahlbau und Straßenwesen auf dem RWTH Aachen Campus gegründet. Ein Forschungsschwerpunkt liegt hierbei auf dem modularen Bauen. Neben Projekten aus dem Bereich des Massivbaus ist die Raumzellenbauweise, derzeit vorrangig in Stahlrahmenbauweise betrachtet, ein ausgeprägter Forschungsbereich des CBI, in dem Wissenschaft und Wirtschaft eng interdisziplinär und unter Einbeziehung der entsprechenden Behörden, wie bspw. der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB), zusammenarbeiten.
Derzeit wird im CBI in Kooperation mit der DGNB ein Konsortialprojekt zur Nachhaltigkeitsbewertung von Raumzellengebäuden bearbeitet. In der aktuellen Projektphase liegt der Fokus auf der Ökobilanzierung, bei der anhand eines Referenzgebäudes die CO2-Emissionen für alle Lebenszyklusphasen quantifiziert werden. Diese beinhalten neben der Herstellung der verwendeten Materialien und dem Energieeinsatz für die Nutzung auch die Errichtungs- und Rückbauphase sowie das End-of-Life (Abfallbehandlung, Deponierung, Wiederverwendung, Recycling) der eingesetzten Bauprodukte. Die ganzheitliche Betrachtung über den gesamten Lebenszyklus liefert Erkenntnisse für eine ökologische Optimierung.
Zusammenfassung und Ausblick
Der vorliegende Beitrag greift die 10 R-Strategien zur Kreislaufwirtschaft auf und erläutert den aktuellen Stand zur Wiederverwendung von Stahl im Bauwesen.
Eine aktuelle Initiative der RWTH Aachen zielt auf einen Paradigmenwechsel von der Verwendung immer neuer Stahlprodukte aus einer energieintensiven, langen Wertschöpfungskette hin zu Stahl als „unendlichem“ Produkt, indem technische Möglichkeiten zur Ist-Zustandsbewertung auf Werkstoff- und Strukturebene durchgeführt und ganzheitlich bewertet werden.
Die Vorteile des modularen Bauens hinsichtlich der Wiederverwendung und Kreislaufwirtschaft werden am Center Building and Infrastructure Engineering auf dem RWTH Aachen Campus kontinuierlich in verschiedenen Projekten mit beteiligten Konsortialpartnern aus der Industrie untersucht und neue Lösungen gemeinsam entwickelt.
Literaturverzeichnis
ANSI/AISC 360-16 – Specification for Structural Steel Buildings. (2016).
Bhaskar, A., Assadi, M., & Nikpey, H. (2020). Decarbonization of the Iron and Steel Industry with Direct Reduction of Iron Ore with Green Hydrogen. Energies, 13(3).
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB). (November 2016). Deutsches Ressourceneffizienzprogramm II – Programm zur nachhaltigen Nutzung und zum Schutz der natürlichen Ressourcen.
Dechantsreiter, U. (März 2021). Reduce-reuse-recycle: R-Gebäudekonzept als Zukunftsstrategie. DAB regional. Bremen.
DIN 1050 Blatt 2: „Altstahl im Hochbau – Richtlinien für Aufarbeitung und Verwendung“. (1947).
EN 1090-2: „Execution of steel structures and aluminium structures – Part 2: Technical requirements for steel structures“. (n.d.).
GmbH, V. V.-B. (2022, 10 20). i2030 – MEHR SCHIENE FÜR BERLIN UND BRANDENBURG. Retrieved from https://www.i2030.de/
International Energy Agency. (2019). Direct CO₂ emissions from steel industry. URL: https://www.iea.org/data-and-statistics/charts/direct-co2-emissions-from-selected-heavy-industry-sectors-2019.
IWT-AG. (2022, 10 20). (IWT-AG) Retrieved 09 23, 2022, from https://iwt-ag.de/beispielprojekt/siemensbahn/
Kuhnhenne, M., Pyschny, D., Bartsch, H., & Richter, C. (2022, April). Kreislaufwirtschaft. Stahlbau, pp. 236-246.
Potting, J., Hekkert, M., Worrell, E., & Hanemaaijer, A. (2017). Circular Economy: Measuring Innovation in the Product Chain. PBL – Netherlands Environmental Assessment.
PrCEN/TS 1090-XXX:2022: „Execution of steel structures and aluminium structures – Steel structures – Part XXX: Reuse of structural steel“. (n.d.).
Projekthomepage i2030. (n.d.). Retrieved 08 15, 2022, from https://www.i2030.de/
Ruiz Duran, C., Lemaitre, C., & Braune, A. (Januar 2019). Circular Economy – Kreisläufe schließen, heißt zukunftsfähig sein. DGNB Report.
United Nations Environment Programme. (2020). Global Status Report for Buildings and Construction: Towards a Zero‑emission, Efficient and Resilient Buildings and Construction Sector. Nairobi.