Weniger ist mehr – oder nicht?
In Berlin entsteht ein neues Museum für zeitgenössische Kunst, das „berlin modern“ – in englischer Aussprache. Die umgebende architektonische Landschaft ist geprägt von der Neuen Nationalgalerie auf der einen und von der Philharmonie auf der anderen Seite. Wir haben uns gefragt, was hier gebaut werden darf und ob das, was kommt, auch zur Ikone werden kann. Über das Projekt und darüber, was „gute“ Architektur ausmacht, haben wir mit Jacques Herzog von Herzog & de Meuron gesprochen. Ihr Siegerentwurf ist inspiriert von der „architektonischen Ikone par excellence – dem Haus“. Ein sehr großes Haus wohlgemerkt.
Berlin ist eine Stadt mit einer charakteristischen Geschichte. Immer wieder werden neue Bauvorhaben stark diskutiert. Wie haben Sie die Arbeit hier wahrgenommen? Ist Berlin eine besonders schwierige Stadt, wenn es ums Bauen geht?
Jacques Herzog: Unsere Arbeit ist sehr unterschiedlich und lässt sich nicht auf einen Stil fixieren. Das hat gerade auch damit zu tun, dass jede Stadt anders und besonders ist. Die Politik und die Arbeitsbedingungen sind ganz unterschiedlich. Und natürlich die Zeit, in welcher ein Projekt entsteht. Man sagt, Berlin sei schwierig. Vielleicht ist das so, aber das Bauen ist immer und überall mit sehr vielen Schwierigkeiten verbunden, weil es um sehr viel Geld geht und es sich über sehr lange Zeiträume erstreckt. Häufig sind verschiedene Interessen involviert, vor allem bei öffentlichen Projekten. Wir erleben gerade eine Art Zeitenwende, auch politisch. Das rüttelt unsere Demokratien und unsere Vertrautheiten durcheinander. Auch die Art der demokratischen Planung, welche in Berlin wie auch in der Schweiz die Szene prägt, funktioniert anders als in anderen Ländern. Architektur ist aber genau deshalb so interessant, weil sie eben stets gebauter Ausdruck einer Gesellschaft in sich immer wieder verändernden Zeiten ist, auch heute.
Hat das „berlin modern“ diese Haltung, diese Atmosphäre in der Architektur aufgenommen? Und wenn ja, wie?
JH: Das berlin modern entsteht in einer Zeit politischer Unsicherheit. Das bedrückt oder frustriert mich aber nicht, weil ich Architektur als eine öffentliche Kunst ansehe, die uns alle angeht und betrifft. Für uns als Architekten ist es wichtig, dass wir stets das Projekt im Blick haben. Was wollen wir erreichen? Welchen Beitrag kann ein Museum für unsere Gesellschaft leisten? Wie nachhaltig ist ein Projekt, wie werden die Ressourcen eingesetzt? Wie können wir eine Architektur entwickeln, welche die Menschen anzieht, mit einer großen Aufenthaltsqualität für alle Generationen? Das sind die Kriterien, an denen ein Projekt gemessen wird.
Das „berlin modern“ fügt sich in einen baugeschichtlich aufgeladenen Ort in Berlin ein. Nach dem Schloßplatz ist er vielleicht eines der umstrittensten Grundstücke der Stadt und ist umgeben von einer ikonischen, architektonischen Landschaft. Auf der einen Seite die Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe, auf der anderen die Philharmonie und die Staatsbibliothek von Hans Scharoun sowie das Kulturforum im Hintergrund. Wie sind Sie im Entwurf, aber auch im weiteren Prozess damit umgegangen?
JH: Zunächst war es Aufgabe der Jury, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, denn es gab viele sehr verschiedene Entwürfe, aus welchen sie das auswählen musste, was dieses komplexe Thema ihrer Meinung nach am besten beantwortete.
Die Neue Nationalgalerie und die Philharmonie sind ja beide Ausdruck einer jeweils extremen architektonischen Position. Mies‘ Abstraktion konnte nicht weitergetrieben werden: acht Säulen mit einer schwebenden Platte, eine Art spätmoderne Interpretation eines Tempels. Die beinahe obsessive Vision einer minimalen Ästhetik, die man nicht mehr steigern konnte. Ich sah keinen Sinn darin, diese Idee der Abstraktion aufzunehmen oder gar weiter zu steigern. Da gab es also keinen Ansatz für unseren Entwurf. Auf der anderen Seite des Grundstücks steht die Philharmonie von Scharoun - ein ganz anderes Mindset. Als Reaktion auf den Nationalsozialismus mit seinem steinernen, neoklassischen Architektur-Repertoire und seinen Ewigkeitsansprüchen kommt Scharoun mit einer tänzerischen, verspielten Haltung daher. Mit organisch, sich bewegenden Formen - eine Art Frank Gehry avant la lettre. Sollte man dieses Spiel weiterspielen? Nein, also auch hier sahen wir keinen möglichen Ansatz für unseren Entwurf.
Wir wollten etwas ganz anderes, das sich nicht auf Mies und auch nicht auf Scharoun bezieht. Etwas, das sich weder unterordnet noch darüber stellen will und dennoch ikonische Qualität hat, ja vielleicht gar die architektonische Ikone par excellence darstellt: das Haus - eine ikonische und zugleich unschuldige Form. Unschuldig, weil offen für unterschiedliche Nutzungen, Interpretationen und zukünftige Veränderungen. Das kann ein Industriebau sein oder ein Palast oder gar ein Tempel wie die Giebelarchitektur der Alten Nationalgalerie von Stüler auf der Museumsinsel. Die Offenheit dieses Narrativs ist es wohl, was die Jury damals überzeugt hatte.
Das Gebäude wird auch Kulturscheune genannt. Stört Sie das oder finden Sie den Spitznamen gut?
JH: Wieso sollten mich Spitznamen stören? Aber „Scheune“ trifft nicht mehr ganz zu. Wir haben seit dem Wettbewerb einiges geändert. Etwa die Tore weggelassen und dafür das Mauerwerk und die spezifischen Öffnungen in diesem Mauerwerk neu konzipiert. Heute präsentiert sich das Projekt eher wie ein großes Bürgerhaus als wie eine Scheune. Wir haben dafür einen speziellen, feingliedrigen und schmalen Backstein entwickelt. Die Mauern des Gebäudes werden deshalb besonders massiv, beinahe archaisch wirken, aber auch elegant, weil die angeschrägten Kanten des Mauersteins Linien ziehen wie feine Bleistiftstriche im Baukörper. Die Art, wie wir das Projekt seit dem Wettbewerbsentwurf weiterentwickelten, entspricht sehr unserer Arbeitsweise. Die im Verlaufe der Planung im Zusammenspiel mit der Bauherrschaft vorgenommenen Veränderungen wollten wir mit größter Präzision vornehmen. Jede Änderung, sei es im Innenraum, seien es die angesprochenen Tore oder die Wahl des Backsteins, hatte jeweils auch Konsequenzen auf die Form, den Raum oder die Proportionen an anderen Stellen des Baus. Es kommt uns dabei entgegen, dass wir uns selbst nie – seit unseren Anfängen als junges Büro – auf einen bestimmten Stil oder eine einzige Haltung festlegen wollen.
Sie meinten gerade, das Außenbild wurde angepasst. Wie wurde das Ikonische, das Einfache, ins Innere übertragen?
JH: Im Inneren ist es so aufgebaut, dass man von Norden nach Süden und von Osten nach Westen durch das Gebäude gehen kann, wie ein Boulevard, der durch das Haus geht. Diese großen Achsen sollen aber auch mit Kunst bespielt werden, sind also nicht nur Durchgangs-, sondern auch Aufenthaltszonen. Präzise gesetzte Wände werden räumliche Sequenzen schaffen, die als Ausstellungsräume genutzt werden sollen. Dieser ganze Bereich soll flexibel sein und unterschiedlich unterteilt werden können.
Glauben Sie an Architekturikonen? Brauchen wir sie?
JH: Es braucht zunächst mal Architektur. Und wenn wir bauen, sollten wir das gut machen. Bauen bindet viel Ressourcen, ökologische und finanzielle. Wir sollten also etwas machen, was nachhaltig ist. Auch sozial nachhaltig. Architektur, in der sich die Menschen gern aufhalten. Etwas, das zugänglich und attraktiv ist für möglichst viele. Gerade auch bei öffentlichen Gebäuden, in die Steuergelder investiert werden, zum Beispiel bei Museen. Nicht alle Menschen sind gleichermaßen interessiert an musealen Programmen. Dennoch sollten Museen für alle interessant sein und sei es nur, weil es soziale Treffpunkte sind. Vielleicht mit einem schönen Café oder einem attraktiven Außenraum, in dem Kunst, Natur und Architektur sich verbinden zu etwas, das es sonst nicht gibt in der Stadt.
Wir wollen Architektur so machen, dass sie ein Beitrag für unsere Gesellschaft ist. Wenn es dann Gebäude gibt, die das besonders gut können und die besonders geliebt werden, weil sie auch schön sind, dann können Ikonen entstehen. Orte, die Fixpunkte sind und über Generationen hinweg bleiben.
Finden Sie, dass man als Architekt oder als Architektin so weit im Voraus planen kann? Wie kann heute so gebaut werden, dass es in 30 Jahren noch „gut“ ist?
JH: Das ist eine immer wiederkehrende Frage an den Architekten. Mit einer einfachen Antwort. Man sollte sich mit den Mitteln der Zeit von heute ausdrücken. Was auch immer wir heute bauen, es wird immer Ausdruck unserer Zeit sein, auch wenn wir uns einbilden, wir würden das Zeitalter der Zukunft vorwegnehmen können. Man denke an die Zukunftsfantasien von Jules Verne, an den italienischen Futurismus oder an die Stadtvisionen der Ville radieuse von Le Corbusier: Alle diese Versuche sagen viel aus über die Sehnsüchte ihrer Autoren, trugen aber nichts dazu bei, die Zukunft in der Gegenwart vorwegzunehmen und zu verstehen.
Das heißt, was heute gut ist, sich im Betrieb bewährt und vor allem bei den Menschen beliebt und gerne benutzt wird, hat echte Chancen, auch in ferner Zukunft noch „gut“ zu sein. Beispiele dafür gibt es überall. Wir selbst haben zahlreiche Projekte realisiert, die auf bestehenden Architekturen aus vergangenen Zeiten aufbauten – und gerade dadurch heute besonders erfolgreich sind. Etwa die Tate Modern in London, das Caixa Forum in Madrid, die Küppersmühle in Duisburg oder Tai Kwun (eine ehemalige Polizeistation) in Hongkong.
Re-use, das bedeutet Bauen auf Gebautem. Neuinterpretieren und Wiederverwenden sind wichtige und auch ökologisch relevante architektonische Mittel. Das war früher so und wird in Zukunft sogar noch aktueller werden.
Sie haben meine nächste Frage schon ein bisschen beantwortet. Ich stelle sie trotzdem nochmal. Kann das „berlin modern“ ein neues Vorbild, also eine neue Ikone werden? Wenn ja, wieso denken Sie das?
JH: Keiner kann das voraussagen. Ich denke aber, dass das Gebäude ein Erfolg sein wird. Heute stehen die einzelnen Gebäude beziehungslos an einem vernachlässigten Ort. Es ist kein städtischer Raum, sondern eine Brache. Unser Projekt wird das ändern. Unser Haus wird Räume schaffen, innen aber eben auch außen. Sowohl zum Bau von Mies als auch zur Philharmonie hin wird ein Platz geschaffen.
Wo heute eine vegetationslose Leere ist, sollen Bäume und andere Pflanzen einen Ort für die Menschen schaffen. Ein Ort für Alle, an dem man sich gerne aufhält, auch an heißen Tagen und auch ohne Besuch der Ausstellungsräume. Die Grundidee – ja die Vision – ist es, das gesamte Areal als Ausläufer des bewaldeten Tiergartens zu betrachten, der nun wieder zurückgewonnen werden soll.
Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es also mehr um die Platzierung, um den speziellen Ort, an dem sich dann eine ikonische Form wie eben das Haus manifestiert. Es gab in der öffentlichen Debatte auch die Kritik an dieser fast zu einfachen Form des Hauses. Was sagen Sie dazu?
JH: Wie kann etwas „zu einfach“ sein? Etwas möglichst einfach zu machen, ist sehr schwierig. Einfach ist etwas anderes als minimal im reduktionistischen Sinn. Es ist viel leichter, komplizierte Dinge zu gestalten. Aber ja, viele Leute glauben, dass komplizierte und überladene Konzepte besonders kreativ seien. Sie selbst als Journalistin wissen ja, dass dies auch für die Sprache gilt. Eine einfache Formulierung ist anspruchsvoller als komplizierte und langwierige Erklärungen.
Die geforderten Änderungen im Prozess haben, so ver-stehe ich Sie, also eher zu einer Optimierung des Gebäudes geführt und weniger zu Frustration. Konnten Sie Ihren Wünschen und Ansprüchen trotz der Änderungen, die vielleicht noch anstehen, gerecht werden?
JH: Es gibt immer Änderungen während eines Planungsprozesses mit größeren oder kleineren Anpassungen. Wichtig ist, diese Änderungen rechtzeitig einzuleiten, damit die übrigen Planer nicht frustriert sind, wenn sie neu anfangen müssen. Und es ist auch wichtig, dass die Änderungen das Projekt als Ganzes im Auge behalten. Man kann sich das wie Stoßwellen vorstellen, die sich durch einen Organismus hindurchbewegen. Man kann nicht einfach etwas wegnehmen oder hinzufügen und alles andere so lassen, wie es ist. Ich habe das mit Herzog & de Meuron schon oft durchgemacht, auch hier bei „berlin modern“. Das Projekt hat einige Änderungen erlebt und jedes Mal wurde es dadurch besser und kohärenter.
Der Grundstein wurde im Februar dieses Jahres gelegt, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Was denken Sie, haben Sie richtig gemacht und was würden Sie nächstes Mal anders machen?
JH: Wenn ich etwas anders machen würde, hätte ich das gemacht. Wir sind in unseren Gedanken und virtuellen Modellen genug durch dieses Haus gegangen und haben uns alles genau angeschaut. Es gibt wenige Projekte, die wir so durchleuchtet haben. Gemeinsam mit der Bauherrschaft, mit dem neuen Direktor der Neuen Nationalgalerie Klaus Biesenbach und mit den Verwaltungsstellen. Wenn etwas nicht gut ist, dann kann ich niemandem die Schuld geben.
Sie sagten, das Gebäude präsentiert sich eher wie ein Bürgerhaus. Ist der demokratische und offene Ansatz das, was Architektur in Zukunft ausmachen wird? Was denken Sie ist die Zukunft des Bauens? Oder was sollte sie sein?
JH: Ich denke, die Technik verändert sich, und die Art, wie wir Architektur herstellen, ändert sich. Wir werden mit digitaler Technologie in der Lage sein, Laien mit in den Prozess einzubinden. Die ganze Art, wie wir planen und Architektur kommunizieren, wird anders sein. Und trotzdem wird am Schluss etwas Physisches dastehen, das den Bedürfnissen der Menschen jeweils entsprechen soll. Gesellschaftliche Veränderungen, unterschiedliche Modelle des Zusammenlebens werden neue Bedürfnisse schaffen. Wir bauen heute nicht mehr die gleichen Villen oder die gleichen Wohnblocks wie vor 100 Jahren und trotzdem bleiben all diese Häuser aus der Vergangenheit durch Umbau, Wiederverwendung oder Neuprogrammierung unverzichtbare Orte in unseren Städten. Es ist für uns Architekten wichtiger denn je, einen Beitrag für die Gesamtgesellschaft zu erbringen. Etwa zum Thema vom Re-use bestehender Architekturen. Es ist nicht nur wichtig, sondern auch unverzichtbar, wenn unser Beruf auch in Zukunft relevant bleiben möchte.
Welche Vorbilder haben Sie?
Das kann ich nicht so klar benennen. Es gibt so viele Orte und Architekturen auf dieser Welt, auch solche, die vielleicht nicht so eindeutig schön oder sogenannte „gute Architekturen“ sind, aber dennoch etwas an sich haben, das einen fasziniert. Vergleichbar etwa mit der B-Seite einer Langspielplatte. Vielleicht sind diese B-Seiten sogar wichtiger als die einzelnen Highlights, weil sie doch die Mehrheit darstellen von dem, was uns alltäglich umgibt. Um deren Schönheit zu sehen, braucht es aber einen aufmerksamen Blick auf scheinbar Unwichtiges. Das ist eine kreative Arbeit, die mir ein Leben lang wichtig war und mich bis heute mehr inspiriert als das Studium von Vorbildern aus der Architekturgeschichte.
Mit Jacques Herzog sprach
DBZ-Redakteurin Amina Ghisu am 13.11.2024