Demenzkranke bleiben aktiv!
Das Wohndorf „De Hogeweyk“ in Weesp/NL

Die in zwei Phasen errichtete und 2008 eröffnete Wohnsiedlung „De Hogeweyk“ der Pflegeorganisation Vivium Zorggroep liegt in einer heterokliten Umgebung von
neungeschossigen Wohnriegeln aus den 1960er bzw. 1970er Jahren, zweigeschossigen Reihenhäusern, ebenerdigen Industriehallen, einem Sportfeld und einer Brache am Rande von Weesp, einer Ortschaft im Südwesten Amsterdams.

Beim Wettbewerb dieses Pflegeheims präsentierten Molenaar & Bol & Van Dillen Architecten im Gegensatz zu ihren zwei Konkurrenten bewusst kein Gebäude, sondern eine Denkstrategie und deren Ingredienzien zur Entwicklung einer Wohnsiedlung in Form von vorsichtig skizzierten, architektonischen und atmosphärischen Zeichnungen und Diagrammen. Sie schlugen dem Auftraggeber einen ­Prozess vor, dessen architektonisches Endresultat sie noch nicht kannten, das aber darauf ausgerichtet war, etwas zu schaffen, das die Ambitionen und Erwartungshaltungen des Auftraggebers selbst noch übersteigen sollte.

Im Zuge der Recherchen über Pflegeeinrichtungen für demente Menschen fanden die Architekten schnell heraus, dass die Ansprüche von „De Hogeweyk“ nicht nur sehr hoch, sondern einzigartig waren. Obwohl das Büro bereits eine Vielzahl verschiedener Pflegeeinrichtungen realisiert hatte, waren sie bis zum damaligen Zeitpunkt noch nicht auf derartige Anforderungen gestoßen. Ausgehend von der Frage, was die Vision von „De Hogeweyk“ für Pflegeeinrichtungen dieser Art in den Niederlanden allgemein bedeuten würde und wie man das Wohnen in verschiedenen Lebensstilen, gepaart mit den Pflegefunktionen in einer integralen Weise umsetzen konnte, entwickelten die Architekten einen Bausteinkatalog, bestehend aus drei grundsätzlichen und charakteristischen Wohntypologien: Wohnen in einer Straße, auf einem Platz oder in einer Gartenlandschaft. Zusammen mit der Landschaftsgestaltung, die für die Architekten unabdingbarer Bestandteil des Wettbewerbentwurfs war, schuf die Analyse der Qualitäten dieser drei Wohnumgebungen gekoppelt mit den Lebensstilen, der Architektur, den Wohnungseinrichtungen und dem Pflegekonzept die Diffenzierung der Siedlung, die das Projekt so erfolgreich machen.

Organisation

Beim Entwurf der Siedlung wurde konsequent versucht, alles, was an ein Pflegeheim erinnert, auszublenden. Der große Gemeinschaftsraum wurde zu einem Theater ausgebaut, das auch von externen Organisationen angemietet werden kann. Das Büro zur Anmeldung für die Teilnahme an verschiedenen Aktivitäten wurde zum Reisebüro, das Arztzimmer wurde zu einer Arztpraxis am zentralen Boulevard und der gemeinschaftliche Speisesaal wurde zum öffentlichen Restaurant, in dem sich die Demenzkranken mit den Bewohnern aus der Umgebung treffen können. Andere Einrichtungen wie das Café, der Friseursalon, das Fitnessstudio, der Marktplatz und der Supermarkt verstärken die Idee des Dorfes zusätzlich. Letztere entstand durch eine Projektion der Innenstadt von Weesp – mit ihren verschiedenen Raumqualitäten, Geschäften, Straßen und Plätzen – auf das Terrain.

Von den rund 15 000 m² Grundstücksfläche ist nur etwa die Hälfte bebaut, die andere Hälfte sind Freiflächen. Der Entwurf der verschiedenen Straßen, Plätze und Gärten wie dem zentralen Boulevard, dem Verlengde Boulevard, dem Vijverpark, dem Theaterplein, der Passage, dem Oosthoek, dem Grote Plein, dem Groenhof und ihrer Verbindung miteinander war Teil des Anspruchs an einen integralen Entwurf seitens der Architekten. Diese Komposition schafft einen Wechsel zwischen öffentlichen und privaten Bereichen, die auch die Privatsphäre der Bewohner respektiert.

Die 152 Bewohner wohnen in 23 Reihenhäusern, die um die verschiedenen Plätze, Gassen und Höfe angeordnet sind. Wie in einer Wohnsiedlung besitzt jedes Haus eine eigene Nummer. In jedem Haus wohnen sechs bis sieben Personen in einer Wohngemeinschaft zusammen. Die Wohnungen sind nach sieben Lebensstilen und drei verschiedenen Außenraumqualitäten organisiert. Jeder Wohngruppe stehen ca. 320 m² Wohnfläche zur Verfügung, wobei den gemeinschaftlichen Wohnzimmern, Küchen bzw. Eingangsbereichen am meisten Aufmerksamkeit zugeordnet wurde.

Das Pflegeziel, demente Personen so wenig wie möglich zu isolieren um ihre Vereinsamung zu verhindern drückt sich auch architektonisch in den Größen der einzelnen Räumlichkeiten aus: Die Wohnzimmer messen zusammen mit der Küche zwischen 65 – 95 m², während die Einzelzimmer rund 16 – 20 m² groß sind. Letztere besitzen bei allen Lebensstilen fast die gleiche Form und bilden die wirkliche Privatsphäre der Bewohner, die sie dann auch mit ihren eigenen Möbeln individuell einrichten können. Es war eine bewusste Entscheidung mehr Geld in die Wohnzimmer, die Eingangsbereiche und Außenräume zu investieren, als in die Schlafzimmer. Man einigte sich außerdem darauf, nur ein geräumiges Badezimmer pro Wohngemeinschaft vorzusehen, da die Bewohner sich im fortgeschrittenen Stadium der Demenz nicht mehr alleine pflegen und waschen können, also bei der Benutzung der Bäder auf das Personal angewiesen sind.

Die Bebauungsdichte und die Verteilung in ein- und zweigeschossige Wohnungen ergaben sich aus der Anzahl der notwendigen Wohneinheiten und Bewohner. Um einen klassischen Solitärbau, umgeben von einem Park und einem Zaun zu vermeiden, beschlossen die Architekten die Wohnungen und Zimmer als natürliche Grenze an den Rand der Grundstücksgrenze zu verlegen, um dadurch im Inneren des Blocks eine maximale Einteilungsfreiheit zu gewinnen. Die rotbraunen Klinkerfassaden und grauen Holzverschalungen erinnern ebenso wie die großen Wohnzimmerfenster an die typisch niederländischen Bautraditionen von Wohnvierteln.

Technisch erfüllt die Anlage alle Anforderungen an das Wohnen für demente Personen: akustische Signale helfen den Pflegern festzustellen, wo sich die Menschen aufhalten, ein automatisches Lift­system erlaubt es den Bewohnern, ohne Knopfdruck von der ersten Etage ins Erdgeschoss zu kommen und automatische Türen machen den Weg frei in die Gemeinschaftsräume. Alle Badezimmer, Schwellenbereiche, Gänge, Türen und Terrassen sind rollstuhlgerecht ausgeführt, woduch sich jeder uneingeschränkt bewegen kann.

Lebensstile

Die Idee der Lebensstile hatte die Organisation bereits im alten, sechsstöckigen Pflegeheim auf demselben Gelände eingeführt. Dort beschränkten sie sich allerdings noch auf die Dekoration und Möblierung der Zimmer. Mit dem Neubau wollten die Architekten nicht einfach eine modernere Version des bereits bestehenden Konzepts wiederholen, sondern das Wohnen in Lebensstilen um einen Schritt weiterführen und die Stile zur Differenzierung verwenden.

Jeder der sieben allgemeinen Lebensstile (städtischer, kultureller, handwerklicher, christlicher, gehobener, häuslicher und indischer Lebensstil) hat eine mehr oder weniger eigenständige Wohntypologie. Allen Lebensstilen war der Wunsch nach Natur und Aussicht auf Gärten, Parks, Grünflächen, oder belebte Plätze und Straßen gemein.
Die Lage, Einteilung und Form der Wohnung und ihre Beziehung zum Außenraum sind den Wohnstilen angepasst.

So liegen die Wohnzimmer beim städtischen Lebensstil an einem Platz oder an einer Straße während sie beim gehobenen Lebensstil Ausblick auf einen Park oder kleine Gärten geben. Auch die Konzeption der Gemeinschaftsräume der einzelnen Wohneinheiten unterscheidet sich gemäß den Wohnstilen. So ist die Küche beim gehobenen Lebensstil relativ klein und nicht einsehbar, weil die Menschen Bedienstete hatten und selbst eigentlich nie in die Küche kamen. Die Wohnungen im indischen Lebensstil, bei dem das gemeinsame Essen und Kochen eine zentrale Rolle spielt, besitzen hingegen sehr große, offene Wohnküchen. Der häusliche Lebensstil spiegelt den traditionellen Stil wieder und für den handwerklichen Lebensstil war die unmittelbare Verbindung zum Garten essenziell. Die Zuteilung der neuen Bewohner erfolgt aufgrund von Fragebogen über Lebenswerte, Lebenshaltung, Gewohnheiten der Menschen, die die Familien ausfüllen.

Außergewöhnlich

Die Vermeidung von Stress ist für demente Personen entscheidend. Traditionelle Pflegeheime sind in der Regel auf ein effizientes Arbeiten für das Pflegepersonal ausgelegt. Das Außergewöhnliche an „De Hogeweyk“ ist, dass es als Wohnviertel entworfen wurde und nicht als Pflegeheim. In der Realität bedeutet dies zwar, dass die PflegerInnen längere Wege zum Holen von Spritzen oder dergleichen zurücklegen müssen, gleichzeitig haben die Pflegekräfte aber einen Rückgang an benötigten Medikamenten konstatiert, der wohl auf die Wohnumgebung zurückzuführen ist.

Gepaart mit dem Wissen über Pflegeeinrichtungen, über Architektur, das Wohnen und Freiraumgestaltung gelang es, für die Bewohner wiedererkennbare Orte wie das Theater mit seinen schweren, roten Vorhängen, dem schwarzen Plafond und einem Holzboden oder dem typisch niederländischen Bruin-Cafe zu entwerfen, ohne dabei in einen Themenpark zu verfallen.

Das Verantwortungsbewusstsein jedes einzelnen Mitarbeiters – sei das nun der Portier, der Techniker, der Kellner oder die Verkäuferin im Supermarkt – sich um verirrte Bewohner zu kümmern, wird durch die Architektur sicherlich aktiv gefördert. Der Erfolg einer derartigen Einrichtung lässt sich nur sehr schwer an der Entwicklung der Krankheit der Bewohner messen, da sie sich zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit (höchste Betreuungsstufe) befinden und bis zu ihrem Lebensende in „De Hogeweyk“ bleiben. Dennoch benötigen sie durch die wiedererkennbare und sichere Wohnumgebung weniger medikamentöse Behandlungen.

Die Qualität der Einrichtung lässt sich aber an den Mitarbeitern und ihrem Einsatz messen: Neben den etwa 140 Voll- oder Teilzeitbeschäftigten gibt es rund 200 ehrenamtlich tätige Mitarbeiter, die mindestens zweimal pro Woche zu Aktivitäten mit den Bewohnern in die Wohngruppen kommen und ganz bewusst und lange dort arbeiten wollen. Außergewöhnlich ist nicht zuletzt, dass die Architekten nicht versuchten, dem Komplex ihre Handschrift aufzudrücken, sondern eine ganz normale Wohnsiedlung zu schaffen. Michael Koller, Den Haag

x

Thematisch passende Artikel:

Ausgabe 11/2016

Zu Hause bleiben Siedlung Köschenrüti, Zürich/CH

Die Schweizerfahne grüßt vom Balkon, Buchsbäumchen säumen die Brüstungen, Kräuterkisten hängen am Geländer. Die Siedlung Köschenrüti soll nicht als Altersheim verstanden werden, wenn auch...

mehr
Ausgabe 08/2013

Hoch gestapelt Eine Wohnsiedlung aus Schiffscontainern, Onagawa/JP

Nach dem verheerenden Erdbeben und Tsunami im März 2011 waren rund 71?000 Menschen im Nordosten Japans wohnungslos. Besonders schlimm traf es unter anderem Onagawa in der Präfektur Miyagi: Eine 15?m...

mehr
Ausgabe 08/2009

Krieg der Stile Das Architekturbüro GRAFT – Berlin, Los Angeles, Peking

An den seelenlosen Baublöcken der minimalistischen „Kastenmoderne“ haben sich die jungen Architekten von GRAFT satt gesehen. Zwar bleibt der gefeierte „Bauhaus-Stil“ eines der höchsten...

mehr
Ausgabe 04/2018

Siedlung Schwyzer Straße, Berlin

In Berlin-Wedding baute die Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892  die Siedlung Schwyzer Straße. Bei der Planung war nicht nur eine wirtschaftliche Bauweise zu berücksichtigen, sondern...

mehr
Ausgabe 05/2011

„Der Rückzug ins Private muss möglich sein“ Daniel Theiler zum Thema „Urbanes Wohnen“

Wer soll der Bewohner von URBAN+ sein? Städtischer Wohnraum muss den Bedürfnissen einer breiten Mieterschaft gerecht werden. Die fortschreitende Reurbanisierung fordert neue und dichtere...

mehr