Sonnenliebender
Drache
Stadion der Weltspiele in Kaohsiung / RC
„Fliegender Drache“ nennen die Taiwaner ihr Stadion in Kaohsiung. Das schimmernde Halbrund ist eine von Toyo Itos perfekten Symbiosen aus Form und Funktion, das dank Solartechnik mehr Strom erzeugt als verbraucht.
Bereits von weitem sieht man das blauglitzernde Gebäude sich schlangenartig in der Sonne aalen. Seine Form gleicht einem Fragezeichen, das sanft den Stadionrasen umspielt. Sein Material: Stahlträger an Betonsäulen, so grazil verstrebt, dass die geschwungene Dachfläche förmlich zu fliegen scheint. Seine reptile Haut verdankt die Fassade tausenden Solarzellen, die Toyo Ito bemerkenswert organisch-ästhetisch in die Gebäudestruktur einfügte. Womit bewiesen wäre, dass Solartechnik längst kein Synonym mehr für unbeholfen mit Photovoltaik beklebte Dächer sein muss.
Freiwillig kam der Griff zur Solarzelle nicht. Aufgabe war es, 55 000 Zuschauerplätze zu schaffen sowie Fußball- und Leichtathletikanlagen, die internationalen Wettkampfstandards entsprechen, aber all dies sollte in einem Gebäude verpackt werden, das die Nachhaltigkeitsauflagen der Regierung erfüllt. Mindestens 1,1 GWh Solarstrom sollten jährlich erzeugt werden, um 660 t CO2 einzusparen, forderte die gemeinsame Ausschreibung von Taiwans Sportkonzil und Kaohsiungs Baubehörde. Dass das wirtschaftlich boomende, aber von China gegängelte Land sein Image als Umweltschänder loswerden will, ist politisch beschlossene Sache. Was also ist ein besserer Botschafter, als die World Games 2009 im größten solarbetriebenen Stadion der Welt zu eröffnen?
Gebaute Öffnung
Toyo Itos Entwurf setzte sich 2005 im internationalen Wettbewerb durch. Sein Entwurf überwindet die geschlossene Stadiontypologie: „Normalerweise sind Stadien sehr statisch und symmetrisch. Wir wollten hier eine fließende, dynamische Form schaffen”, erläutert Ito. Und so blickt, wer aus der U-Bahn-Station kommt, auf den leicht kurvig ansteigenden „Drachenschwanz“, der Ticketschalter und Büros beherbergt. Dieser steigt kontinuierlich an bis zum massiven Haupttrakt, der C-förmig das Wettkampffeld umschließt und abrupt am Kopf des Drachens endet. An der offen gehaltenen Südseite befindet sich der Haupteingang. Durch seine sich auffächernden Säulen hat man bereits von außen Sicht aufs Stadiongeschehen, während Nordtribünen-Besucher auf die angrenzende Grünfläche schauen.
Das Fundament der dynamischen Form bildet ein zweigeschossiger Betonsockel, in dem Parkplätze, Verwaltung, Umkleidekabinen und VIP-Lounges untergebracht sind. Die darauf aufsetzende, offen gehaltene Dach-Fassaden-Konstruktion ist klar in der Formensprache; ihre Strukturelemente sind deutlich betont und sauber miteinander verbunden. Die Sequenz beginnt mit einer markanten Pfahlreihe, die Decken und Wände des Betonsockels stützt sowie seitlich stabilisiert und vertikale Lasten ausgleicht.
Den Hauptteil der Abwärtslast tragen die skelettähnlichen Säulen, die sich in rhythmischen Abständen aneinanderreihen. Ihre unterschiedlichen Formen – allein im Hauptkorpus gibt es neun davon – sind aus Gießbeton gefertigt sowie auch das schulterknochenähnliche Gebälk, das Obertribüne und Dach hält.
Das geschwungene Dach besteht aus drei Schichten: Stahlträger, oszillierende Rohre und Solarpaneele. Die Stahlträger fungieren als zentrale Strukturelemente, so konzipiert, dass sie die Lasten des 22 000 m²-Daches tragen. Insgesamt 32 gedrehte Rohre formen einen radial-rautenverstrebten Kokon, der die gesamte Dachkonstruktion nahtlos zu einer Einheit verwebt. Gestalterisch repräsentieren sie das „Spirale Kontinuum”, das dem Gebäude seine Leichtigkeit und Dynamik verleiht; konstruktiv fangen sie kurzzeitige Wind- und Wetterlasten ab. Die Rohre wurden nach Itos 3D-Modell sonderangefertigt. ¬Zugleich verankern die Rohre auf winddurchlässige Weise 14 155 m² Dachfläche, in deren Aluminiumrahmen sich die 2,5 mal 3,5 m großen Photovoltaikmodule einflechten.
So chic das Stadiondesign aussieht, es lässt sich – wie für Toyo Ito typisch – keinesfalls auf Ästhetik reduzieren: So wurde die Achse des Stadions 15° nordwestlich ausgerichtet, was dem Rasen die nötigten 5 ½ Stunden Lichteinfall gewährt, aber direkte Sonnenstrahlen fernhält, die die Athleten blenden könnten. Dank der südlichen Öffnung des Baukörpers lassen sich die starken Sommerwindböen auffangen.Die insgesamt durchlässige Konstruktion nutzt aber den Wind zur natürlichen Belüftung. Um sicherzustellen, dass dabei kein Ballspiel beeinträchtigt wird, ist das Spielfeld in die Erde eingelassen.
Sportlich grüne Fassade
Das wie Wasser wogende Dach ist genauer betrachtet ein Solarkraftwerk, das gerade wegen seiner organischen Form aufwändig zu realisieren war: „Die größte Herausforderung war es, die über 8 800 Photovolitaikmodule auf dem wellenförmigen Stahlskelett des Stadions anzubringen und sie so ertragsoptimiert zur Sonne auszurichten, dass 1,1 MW Strom erzeugt werden.“, erinnert sich Miki Shiget, Projektleiter beim japanischen Ingenieurbüro Takenaka.
Der Solarzellenhersteller simulierte die Lichteinstrahlungsintensität und modifizierte die Szenarien unter veränder¬ten Bedingungen. Ziel war eine Oberflächenbeschaffenheit des Daches, die auch in Detailbereichen Schattenbildung vermied. Die gekrümmte Fläche erforderte intensive Rechenarbeit, um jede Zelle optimal zur Sonne geneigt auszurichten. 279 dezentrale Wechselrichter waren nötig, um die jeweils ähnlich positionierten Module zusammenzuschalten. Zum Vergleich: Bei ebener Fläche kann man 1,5 MW Leistung mit 15 Wechselrichtern erzeugen.
Um auf dem wellenartigen Dach die Solarzellen, die zwischen sechs Millimeter dicken, gehärteten Glasscheiben einlaminiert sind, so anzubringen, das der Eindruck von Wasser entsteht, wurde ein System konstruiert, dass die Module schwimmend fixiert. Ein spezieller Silikonkleber für Glasfassadenbau wurde eingesetzt, um die Photovoltaikelemente am Stahlgerüst zu befestigen. Dabei kamen plissierte Dichtungen aus Styrol-Chloropren-Gummi zum Einsatz, die einen Versatz der Panels gegeneinander vermieden, um die Analogie zu einer Wasseroberfläche nicht zu zerstören.
Der Hersteller der Solarpaneele beziffert die Integrationskosten auf etwa 6 Mio. € – 6 000 € pro kWh – bei einer Gesamtbausumme 103 Mio. €. Das örtliche Bauamt scheint die Kosten anders abzugrenzen und kommt auf eine fast doppelt so hohe Summe.
Die Stromerzeugung scheint jedenfalls zu klappen. In den ersten neun Monaten wurden eine Million Kilowattstunden Strom ins örtliche Netz eingespeist. Da noch keine Auswertung des Verbrauchs während der World Games vorliegt, ist unklar, ob es gelang, die 3 300 Stadionlichter nebst Großbildleinwände mit 70 % des erzeugten Stroms autonom zu versorgen.
Toyo Itos Haltung gegenüber Photovoltaik als Gestaltungselement soll das Projekt nicht sonderlich beeinflusst haben. Das spricht – aus Sicht des Lifecycle-Managements – für den Mann. Nach den Kriterien eines möglichst niedrigen Ressourceneinsatzes haben massive beziehungsweise Dickschicht-Siliziumzellen, deren Kapazität bereits nach zwei Jahren nachlässt, den Charakter einer bigotten „Feigenblatt-Nachhaltigkeit“ – so gelungen sie in diesem Falle auch verpackt ist!
Rahel Willhardt, Köln