Tragende Haut
Fassadenkonstruktion der O.A.S.E., Düsseldorf

Es ist nicht nur die von der Bundesregierung verkündete „Energiewende“, es sind auch immobilienökonomische Überlegungen zur Effizienzsteigerung, die neue Anforderungen an das Bauteil Außenwand stellen. Das Bewusst­sein für die Gebäudehülle als wichtigsten Regler der klimatischen Bedingungen und damit der Energiekosten ist schon weit vor dem offiziellen Atomausstieg gestiegen. Damit es dabei nicht bei einem bloßen Verpacken mit immer dickeren Schaumstoffschichten bleibt, bedarf es trotz vielversprechender Versuche aber noch weiterer Anstrengungen von Architekten, Bauingenieuren und der Baustoffindustrie. Für Hochhäusern, deren Kern aus wirtschaftlichen Gründen so auf das funktionelle oder besser, erschließungstechnische Mindestmaß verschlankt wird, dass von seiner ursprünglichen Tragwirkung nicht mehr viel übrig bleibt, ist eine Lösung ge­funden: Mit sogenannten Outriggern, also Auslegern, können die Außenstützen und -wände als tragende Bauteile aktiviert werden. Auch die an ein kleines Hochhaus erinnernde O.A.S.E., mit einer spektakulären Fassade an der Schnittstelle zwischen Universitätsklinikum und Universität Düsseldorf gelegen, hat tragende Außenwände. Anders aber als bei richtig hohen Hochhäusern mit den erwähnten Outriggern bilden die Außenwände, die Decken, drei durchlaufende Stützen sowie die beiden Erschließungskerne bei diesem Gebäude ein räumlich-kraftschlüssiges Rahmensystem.

Fassadenentwurf

Die organische Anmutung der Gebäudehülle folgt dem von einem Kapillarsystem motivierten Gebäudekonzept, wobei sie keine Rücksicht auf Wahrnehmungsgewohnheiten nimmt: Allein der fließend-geschwungenen Gestaltung verpflichtet, sind offene und geschlossene Flächen scheinbar regellos über die gesamte Fassade verteilt. Keine Loch-, keine Pfosten-Riegel-, keine Ganzglas-Fassade, sondern grünlich-gläserne Flächen, die sich offensichtlich wenig um Geschosse und Gebäudeecken scheren und vom Boden bis zum oberen Gebäudeabschluss reichen. Hätte die Fassadenplanung auf die schwarzen, deutlich vom Sonnenschutzglas abstehenden Querprofile verzichtet und stattdessen etwa Silikonfugen verwendet, wäre die Illusion der glatten Haut noch viel deutlicher geworden. Auch die geschlossenen Fassadenflächen sind zumindest auf den ersten Eindruck nicht minder willkürlich über die Gebäudehülle verteilt. Erst bei genaueren Betrachten erkennt man, dass sich diese Flächen in drei Kategorien einteilen lassen:

– in elf stehende Elemente

– in zwei, die ganze Fassade durchlaufende Elemente

– in vierzehn hängende, im statischen Sinne nicht grundfeste Elemente.


Im ursprünglichen Modell des verantwortlich zeichnenden Architekturbüros HPP gab es auch noch eine vierte Variante, und zwar mit kleineren, gerade über eine Geschossdecke hängenden Elementen. In der darauffolgen­den Überarbeitung des Tragwerkskonzepts – erarbeitet durch die Ingenieure Bollinger + Grohmann – wurde, um den Kraftverlauf präzise abzubilden, ein räumliches Modell entwickelt und dann auf letztgenannte Variante verzichtet.

Integrale Planung

Wegen des gestalterischen Konzeptes, aber auch wegen der Vielzahl der Nutzungen, die der „Ort des Austauschs, des Studiums und der Entwicklung“ beherbergt, die vom wissenschaftlichen Arbeiten in der Fachbibliothek über allgemeine Verwaltung bis zur Kinderbetreuung reichen, war die integrale Planung ein Muss. Die Kooperation von Architekten und den Fachingenieuren von Anfang an war auch deshalb nötig, weil erst ein Konjunkturprogramm die Finanzierung der O.A.S.E. ermöglichte, und deshalb eine äußerst kurze Planungs- und Bauzeit eingehalten werden musste.

Zunächst wurde vom verantwortlich zeichnenden Architekturbüro HPP und den Trag­werks­planern Bollinger + Grohmann zu­sammen mit dem Universitätsklinikum Düsseldorf, dem Bauherrn, die Dimension der medizinischen Bibliothek bestimmt. Eine Bücherei mit kompakten Fahrregalanlagen hätte eine Verkehrslast von 1 250 bis 1 500 kg/m² und eine entsprechend höhere Dimensionierung der Decken und Stützen bedeutet. Weil mit dem Konjunkturprogramm auch eine bestimmte ministerielle Kostenrichtlinie zu erfüllen war, wurde auf diese schweren Regalanlagen aus ökonomischen Gründen verzichtet. Man einigte sich auf Freihand­magazine und Leseinseln, wofür man eine Verkehrslast von 750 bis 1 250 kg/m² annahm. Auch auf vorgespannte Decken, die stützenfreie Räume und damit nicht nur in den Verwaltungs-, sondern auch in den Lesebereichen eine größere Freiheit in der Grundrissgestaltung (auch für eine eventuelle Nachnutzung) bedeutet hätten, verzichtete man aus Kostengründen. Konsequenz dieser Entscheidung waren drei Stützen, die als zusätzliche Auflagerpunkte für die nunmehr schlaff bewehrten Decken dienen. Zwei dieser Stützen sind durchgehend, die dritte wurde in den Bibliotheksgeschossen, also im vierten bis siebten Stockwerk, als Wandscheibe ausgeführt, an der gleichzeitig die zusätzlichen Verbindungstreppen zwischen diesen Geschossen als gefaltetes Fertigteil angebracht sind.

Für das eingangs erwähnte statische Rahmensystem und mit den hängenden Elemen­ten war es dringend notwendig, die Decken mit den Fassadenelementen kraftschlüssig miteinander zu verbinden. Zu diesem Zweck mussten die Deckenränder aufgekantet werden. Die Höhe dieser von den Tragwerksplanern als „Riegel“ bezeichneten Aufkantungen beträgt 30 cm – also exakt die Höhe des Hohlraumbodens. Decken, Riegel und geschlossene Fassadenelemente wirken dann als Vierendeelträger, wofür die geschlossenen Flächen mindestens über drei Deckenränder reichen mussten. Die beiden hängenden ­Elemente, die sich um die Gebäudeecken wickeln, reichen sogar über mindestens sieben Deckenränder. Der Umstand, dass sich im diesem Konzept die tragende Wirkung der Fassade erst nach dem Erstellen und Aushärten mehrerer Geschosse einstellt, hatte für die Bauausführung erhebliche Konsequen­zen. So musste zum Beispiel ein permanen­tes Monitoring aller Verformungen geleistet werden. Die massive Stahlbeton-Konstruktion wurde in Ortbeton geschossweise ausgeführt, wobei in den unteren Geschossen die Dicke der tragenden Fassade 40 cm, in den oberen Geschossen 30 cm beträgt. Die offe­nen Flächen wurden erst mit vorgefertigten Holzhohlkästen dargestellt und dann die geschlossenen Flächen betoniert. Für die Aus­härtung mussten die Decken in Abständen von 80 cm unterstützt werden, im Bereich der Deckenränder und Fassade verdichtete sich dieser Stützenwald auf einen Raster von 40 cm.

Auch für die Fassadenkonstruktion wurden im Lauf der Planung verschiedene Varianten untersucht. Unter anderem wurde eine zwängungsfrei gelagerte Sichtbetonfassade vorgeschlagen. Aus Kostengründen ließ man dann von dieser Version ab. Man entschied sich dann für eine konventionelle vorgehängte Fassadenkonstruktion mit Dämmung, Trägerplatte aus recyceltem Glas und weißen Glaskeramik-Fließen, die der klinischen Umgebung eine ziemlich prominente Referenz erweisen – schließlich beträgt die Höhe der O.A.S.E. inklusive Technikgeschoss fast 40 m. Im Inneren allerdings blieb die Sichtbetonqualität der geschlossenen Fassadenelemente und der Deckenunterseiten erhalten.

Auch die technische Gebäudeausrüstung kann mit einer Besonderheit aufwarten: Zwar laufen die Kanäle für Be- und Entlüftung ganz konventionell im Hohlraumboden, die Rohre für die Betonkernaktivierung sind im Gegensatz zu den üblichen Systemen aber unter den Bewehrungsstahlrosten angebracht. Die Kühl- bzw. Heizwirkung der Decken ist durch dieses System zwar effizienter, doch zeichnen sich die Rohre bei ungünstiger Beleuchtung auf den Deckenuntersichten deutlich ab. Für die Realisierung dieses Systems war eine enge Zusammenarbeit zwischen Tragwerks- und TGA-Planern notwendig, um so die – statisch gesehen – schwierigen Kreuzungspunkte zu minimieren.

 Unabhängig von der Innenarchitektur, die dem Konzept eines organischen Gebäudes mit runden, geschwungenen, bisweilen amorphen Formen kongenial folgt, ist die Fassade das Highlight des kleinen Bibliothekturmes. Dies sowohl in gestalterischer Hinsicht als auch unter technischen Aspekten. Die symbolische Aufladung der Fassade entspricht der technischen Doppelkodierung der Gebäudehülle, die nicht mehr nur eine (klima-)schützende, sondern auch tragende Funktion erhält. Zu vermuten ist, dass dem Experiment der O.A.S.E. unter diesem Gesichtspunkt weitere Experimente folgen.

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