Farbstrategien
„Capricci" sind abstrakte Darstellungen, die aus der Beschäftigung mit konkreten Bauten abgeleitet wurden. Hier die Strategie „Second Layer“, die am Beispiel von zwei Wohnhäusern von Knapkiewicz und Fickert formuliert und visualisiert wurde. Collage mit handgestrichenen Farbmustern
Foto Urs Siegenthaler
In einer Gemeinschaftsarbeit mit Fiona McLachlan von der Universität Edinburgh und Anne Marie Neser aus Berlin ist das Haus der Farbe dem raumgestalterischen Potenzial von Farbe nachgegangen. Anhand ausgewählter Architekturbüros analysierten wir sechs exemplarische Farbstrategien in der architektonischen Entwurfspraxis. Wir nannten sie „Malerische Promenade“, „Umfassendes Zusammenspiel“, „Geklärte Tektonik“ sowie „Stille Tonalitäten“. Außerdem befassten wir uns mit den Strategien „Immersive Pop“ und „Second Layer“, auf die wir im Folgenden näher eingehen.
Die Strategie Second Layer
Wenn farbige Flächen in freier Form, wie eine Maske, über eine Fassade oder einen Innenraum gelegt werden, bilden sie eine neue Schicht, die der Architektur eine zusätzliche Lesart gibt. Eine auf dieser Grundlage basierende Strategie nennen wir „Second Layer“. Wir untersuchten sie anhand von Bauten des Zürcher Architekturbüros Knapkiewicz & Fickert, die dieses Spiel mit der zweiten Schicht meisterhaft beherrschen.
Die Architekten Kaschka Knapkiewicz und Axel Fickert applizieren Farbe direkt auf die Oberflächen, um Maßstäbe und Proportionen zu verändern, Volumen und Tektonik zu überspielen und so alternative Interpretationen oder Bedeutungen der Architektur vorzuschlagen. Die Farbe ist subversiv und bewusst verspielt, mal unterstützend, manchmal widersprüchlich. Der Vergleich mit einer Maskerade ist treffend, denn eine stilvolle und intelligente Maskerade ist humorvoll, aber nicht komisch, nicht ernst, aber dennoch ernsthaft. Sie irritiert und provoziert, vermag gleichzeitig aber auch zu faszinieren und zu berühren. Sie reizt zum wiederholten Hinschauen.
Wie die Maskerade ist auch die Farbstrategie „Second Layer“ eine Gratwanderung, in der stets die Gefahr des Absturzes ins Geschmacklose und Banale lauert. Die Kunst besteht in der Intelligenz und in der Wahrung von Stil. Der Umgang mit einer derart gewagten Farbstrategie verlangt daher eine hohe architektonische wie auch farbliche Kompetenz und Präzision. Neben einer sicheren Hand im Entwurf und einem feinen Gespür für die ästhetische Aussagekraft gestalterischer Ausdrucksmittel sind Wagemut, Humor und Selbstironie für einen angemessenen und qualitätvollen Einsatz dieser Strategie unabdingbar.
Die Farbmuster der vor Ort abgenommenen Farben bildeten die Grundlage für die Komposition der Farbportraits eines spezifischen Baus, hier zum Beispiel die Wohnsiedlung Klee (2006-11) in Zürich von Knapkiewicz und Fickert. Collage mit handgestrichenen Farbmustern
Foto Urs Siegenthaler
Die Strategie Immersive Pop
Eine zweite Strategie, bei der die Farbe die Architektur gänzlich dominiert, nennen wir „Immersive Pop“. Hier spielt die Farbe nicht mit der Architektur, sie überflutet sie gleichsam. Wir bedienen uns damit einer Begrifflichkeit, die einerseits die Bewegung der Pop Art, andererseits das Phänomen der Popkultur evoziert. Zentrales Moment ist der spielerische Umgang mit Konventionen und Innovation, mit Konformismus und Grenzüberschreitung. Untersucht haben wir sie am Beispiel des Architekten Rainer Rümmler aus Berlin (1929-2004), der in den 70er Jahren unverwechselbare U-Bahnstationen von farblicher Präsenz im Sinne des „Immersive Pop“ geschaffen hat. Darunter sind zum Beispiel die Stationen Fehrbelliner Platz, Rathaus Steglitz und Konstanzer Straße. Sie sind künstlerisch, mitunter exzentrisch, in jedem Fall aber praktisch und bis ins kleinste Detail hinsichtlich der Gesamtkompositionen und der Verwendung der Materialien durchdacht. Der Künstler inszeniert das Eintauchen in den Untergrund, das Herausfallen aus dem städtischen Allerlei mit zeittypischen Formen- und Farbensprachen.
Die von Rümmler geschaffenen Räume zeigen, dass „Immersive Pop“ unmittelbar anspricht und forsch aus dem Alltagsvertrauten hervorsticht . Die Doppeldeutigkeit des englischen Kürzels „pop“ ist dabei richtungweisend. Neben „populär“ bedeutet „pop“ im englischen Sprachgebrauch auch „Knall“, als Verb auch „hervorholen“. Vordergründiges Anliegen ist Wiedererkennbarkeit, dies gewährt die Chance auf Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit. Diesbezüglich ist „Immersive Pop“ auch mit Strategien des Marketings und Brandings verwandt.
Diese modische, bisweilen Grenzen auslotende Farbstrategie verlangt neben einem feinen Gespür für aktuelle Trends und ästhetische Konventionen, einen stilsicheren Umgang mit gestalterischen Ausdrucksmitteln, auch eine gewisse Risikobereitschaft und Verspieltheit. „Immersive Pop“ strebt ein unmittelbares und intensives Raumerlebnis an, das einer kurzlebigen ästhetischen Sprache entspringt. Folglich ist der Einsatz dieser Farbstrategie im Hinblick auf die geplante Nutzung genauestens zu bedenken.
Die Farbstrategie „Immersive Pop“ wurde aufgrund der Untersuchung von Bauten von Rainer Rümmler dargestellt, hier des Berliner U-Bahnhofs Rathaus Steglitz (1969-73). Collage mit handgestrichenen Farbmustern
Foto Urs Siegenthaler
Fazit
Farbe ist ohne Frage ein wesentliches und vielseitiges Mittel der Raumgestaltung. Wird Farbe als integraler Bestandteil des Entwurfs verstanden und gekonnt eingesetzt, schafft sie einen gestalterischen sowie funktionalen Mehrwert. Idealerweise entstehen die ersten, strategischen Ansätze zu einem Farbkonzept schon früh im Entwurfsprozess. Eine im Gesamtkonzept verankerte Farbgestaltung berücksichtigt selbstverständlich die verschiedenen Aspekte der Architektur wie Raum und Licht, Architektursprache und Kontext, Funktion und Atmosphäre, Materialität und Textur.
Marcella Wenger-Di Gabriele ist Farbgestalterin und Co-Leiterin am Institut des Hauses der Farbe in Zürich. Sie prägt die visuelle Ausarbeitung der Dokumentations- und Forschungsarbeiten und konzipiert Schulungen zum Umgang mit Farbe für Architekturbüros, Behörden und Unternehmen der Industrie und Dienstleistung. Stefanie Wettstein ist Kunsthistorikerin und Leiterin des Haus der Farbe in Zürich. Seit der Gründung 1995 ist sie mit der Institution verbunden. Sie ist zudem im Baufarbenforschungsteam eines Restaurierungsbetriebs tätig und hat eine Assistenzstelle an der ETH Zürich am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur.
Haus der Farbe – Fachschule für Gestaltung in Handwerk und Architektur
Das Haus der Farbe besteht aus einer Schule und einem Institut für Gestaltung in Handwerk und Architektur. Die Vermittlung von Wissen und Können bildet den Kern der Institution. Die beiden Bildungsgänge „Farbgestaltung in der Architektur“ und „Gestaltung im Handwerk“richten sich an Berufstätige verschiedenster Herkunft. Die interdisziplinären Bildungsgänge fördern so das gegenseitige Verständnis von Handwerker:innen, Architekt:innen und Behörden. Das Institut forscht, dokumentiert und berät zu Themen wie Farb- und Handwerkskultur, historische Farbgebung und Architekturoberflächen.
Publikation Farbstrategien
Haus der Farbe – Fachschule für Gestaltung in Handwerk und Architektur (Hrsg.), Co-Autor:innen: Fiona McLachlan, AnneMarie Neser, Lino Sibillano, Marcella Wenger-Di Gabriele, Stefanie Wettstein, mit einem Vorwort von Iain Boyd Whyte, Schwabe Verlag Basel, 2015
Die Ausstellung
Vom 30. März bis am 22. Juni 2023 ist die Wanderausstellung „Farbstrategien in der Architektur“ ein letztes Mal in Zürich zu sehen, Informationen unter www.hausderfarbe.ch