Neckarhofgebäude, Berlin
Foto: Hütten & Paläste/ Studio Bowie
Man kennt sie vielleicht von der Nordseeküste: Queller, das ist diese dickfleischige Sukkulente, die ein bisschen so aussieht, als ob das Meer Korallen an Land gespuckt hätte. Tatsächlich aber übernehmen die nur 5 bis 45 cm hohen Pionierpflanzen eine wichtige Funktion bei der Landgewinnung. Unempfindlich gegen das Salz des Meeres binden sie mit ihren Wurzeln Sedimente, die nach und nach die Küstenlinie verlanden.
Das neue Dachgeschoss erweitert die nutzbare Fläche und trägt somit zur Verdichtung und optimalen Nutzung des knappen innerstädtischen Baugrunds bei
Foto: Hütten & Paläste/ Studio Bowie
Was aber hat das mit dem Bauen im Bestand zu tun? Wenig. Und gleichzeitig sehr viel, wenn auch im übertragenen Sinne. Sprechen wir von den Industriebrachen unserer Innenstädte, dann sprechen wir angesichts der schieren Masse von einem Erbe, das nichts für zarte Pflänzchen ist. Es braucht zähe Pioniergewächse mit dem Willen, sich schwieriges Terrain zu eigen zu machen – sonst verwandeln sich diese Standorte nach und nach in Trümmerwüsten, bei denen allein schon die Kosten für Abriss und Entsorgung jede potenzielle Investor:in in die Flucht schlagen.
Neue Aufteilung: Statt Trockeneinbauten erhielt das Gebäude vollständig rückbau- und recycelbare Fensterprofile, die das Sonnenlicht im Winter tief in das Gebäude lassen
Foto: Hütten & Paläste/ Studio Bowie
Berlin hat viele solcher Areale. Gleichzeitig ist es aber auch eine Stadt, die in den vergangenen Jahrzehnten eine große Zahl von Pionier:innen auf ihre innerstädtischen Industriebrachen lockte: „Das Gelände des ehemaligen Standorts der KindlBrauerei im Neuköllner Rollbergviertel hat seit deren Schließung 2005 zahlreiche, teils informelle Nachnutzungen erfahren“, sagt Frank Schönert, Partner im Berliner Büro Hütten & Paläste, die den Umbau des Areals gestalten. Zu den frühen Nutzer:innen zählten vor allem Kulturschaffende – Ateliers und eine Szenebar gehören hier ebenso zu der typischen Berliner Mischung wie eine Kartbahn.
Living in a box:
Die notwendige
Infrastruktur wie
Küchen, WCs und Nassräume wurde in Raummodulen untergebracht
Foto: Hütten & Paläste/ Studio Bowie
Im denkmalgeschützten Sudhaus zog bereits im Jahr 2011 das Kindl-Zentrum für zeitgenössische Kunst ein. Dazu gehören das dreigeschossige Maschinenhaus mit rund 1 200 m² Ausstellungsfläche, im Turmgebäude befinden sich Ateliers und Fotostudios. Ein Café fand sein Plätzchen im Sudhaus zwischen sechs gewaltigen Kupferkesseln, die je 705 Hektoliter fassen. Wer glaubt, dass damit schon ein Großteil der Umwandlung der innerstädtischen Industriefläche abgeschlossen war, irrt – und zwar gewaltig!
Passives Klimakonzept: An der südlichen Hoffassade hindern Balkone die Sonne im Sommer daran, das Innere aufzuheizen. Im Winter hingen dringt das Licht tief bis in das Innere des Gebäudes
Foto: Hütten & Paläste/ Studio Bowie
Raumpotenziale erschließen
Denn im Jahr 2015 erwarb die Terra Libra Immobilien GmbH, eine 100-prozentige Tochter der schweizerischen, gemeinnützigen Stiftung Edith Maryon, die „restliche“ Fläche: rund 25 000 m² bestehende Nutzung auf einem 13 850 m² Grundstück. Noch einmal 10 000 m² ungenutztes Raumpotenzial soll mit den unterirdischen Lagerflächen erschlossen werden. Weitere 12 500 m² nutzbare Fläche entstehen in den nächsten Jahren durch Überbauung von Teilen der Hoffläche neu. Ein gewaltiges Vorhaben, dessen Umsetzung sich wohl über die kommende Dekade hinziehen wird. Wo beginnen?
Flexible Raumelemente ermöglichen den einfachen Umbau je nach gewünschter Nutzung
Foto: Hütten & Paläste/ Studio Bowie
Hier kommt wieder das Bild vom Queller ins Spiel. Genauer, die Rolle des Neckarhofgebäudes, das als Pionier der Umnutzung sowohl den Boden für die kommenden Aufgaben bereiten als auch Modell stehen soll für die Art und Weise, wie der Bestand für den Bedarf der Zukunft ertüchtig wird. Es gewinnt im übertragenen Sinn Land zurück, dessen historisch angereicherten Schätze sonst für die städtische Topographie verloren gegangen wären.
„Wir fanden hier 2018 einen total verbauten Zustand vor, der alle Qualitäten des historischen Bestands überlagerte“, erinnert sich Frank Schönert von Hütten & Paläste. „Das Meiste war in typischer DIY-Manier aus den jeweils verfügbaren Materialien hinzugefügt worden – ohne Konzept, nur mit dem Ziel, die jeweilige Zwischennutzung zu ermöglichen.“ Zu früheren Zeiten beherbergte das ehemalige Wirtschaftsgebäude am östlichen Rand des Brauereiareals in der Neckarstraße Duschen, Umkleiden und Sozialräume für die 280 Beschäftigenden der Berliner Kindl-Brauerei. Der Wunsch der Auftraggeberin war es nun, das Gebäude zu einem Bürostandort der GmbH umzubauen, von dem aus sie den weiteren Umbau das Areals übersehen und steuern kann. Gleichzeitig sollte das Gebäude aber auch dazu befähigt werden, nach Abschluss der Arbeiten anderen Mietern eine Perspektivfläche zu bieten.
Die Nordfassade mit ihrem massiven Mauerwerk blieb unverändert und dient als Speichermasse für die passive Gebäudeklimatisierung
Foto: Hütten & Paläste/ Studio Bowie
„Wir haben hierzu sämtliche Etagen leergeräumt und eine neue Infrastruktur installiert, die künftigen Nutzer:innen als Ankerpunkte für den eigenen Aus- und Weiterbau dienen soll“, erklärt Frank Schönert. Im Grunde haben sie also der typischen, großstädtischen Selbstaneignung eine professionelle Struktur gegeben. Nasszelle und Küchenzeile sind lediglich eingestellt, die Unterteilung der Grundrisse erfolgt durch versetzbare oder sortenrein rückbaubare Holzwände und eingestellte Möbel mit Schiebetüren. Dies ermöglicht nicht nur die äußerst flexible Nutzung der Räumlichkeiten, sondern dient auch der passiven Gebäudeklimatisierung, dem zentralen Aspekt des energetischen Konzepts bei diesem Projekt.
Passive Klimastrategie
„Wir machen uns die Stärken des Bestands mit wenigen, wohlüberlegten Eingriffen gezielt zu Nutze“, sagt Frank Schönert. „In diesem Fall war die Nordwand deutlich massiver ausgebildet als die Südfassade. Dadurch ließ sie sich recht einfach als Speichermedium aktivieren.“ Voraussetzung dafür war allerdings, dass die Luftmassen möglichst frei zwischen den beiden Fassaden zirkulieren können – daher die Schiebewände und flexiblen Einbauten. Trockeneinbauten hätten den Luftstrom und damit die passive Klimatisierung des Gebäudes unterbunden.
Und die funktioniert wie folgt: Während die Nordfassade unverändert blieb, erhielt die Südfassade eine hochwertige Dämmung aus Holzfaserdämmplatten, um sie vor Wärmeeinträgen im Sommer und Wärmeverlusten im Winter zu schützen. Zusätzlich bekam sie einen „begehbaren Sonnenschutz“ – aka: vorgelagerte Balkons. Diese verhindern, dass die hochstehende Sommersonne in die hinterliegenden Räume fällt und sie erhitzt. Rutscht die Sonne jedoch im Verlauf der kalten Jahreszeit immer weiter in Richtung Horizont, dringen ihre Strahlen immer tiefer in das Gebäude und erwärmen dort die Raumluft, die ihrerseits das massive Mauerwerk der Nordfassade erwärmt. Auf diese Weise dient es als Speicher für die solare Heizunterstützung.
Trotz zahlreicher Brachflächen und weiterer Industriestandorte, die immer noch ihrer Umnutzung harren, wird der Baugrund auch in der Hauptstadt langsam knapp. Vor allem innerhalb des S-Bahnrings. Um das wertvolle Flächenpotenzial der zentralen Lage optimal auszunutzen, erhielt das Neckarhofgebäude daher einen einstöckigen Aufbau: Der ausgefachte Holzständerbau ist mit Holzfaserdämmplatten gedämmt und nach den aktuellen Forderungen der EnEV errichtet. Eine Dachbegrünung und lehmverputzte Innenwände sorgen hier für eine angenehme Luftfeuchtigkeit und Kühlung und tragen ihren Teil zur energetischen Ertüchtigung des Bestands bei. Insgesamt 1 000 m² Fläche bietet der Satellit der Industrieagglomeration nun den Beschäftigten der Terra Libra Immobilien GmbH. Obendrein ist das gesamte Konstrukt vollständig rückbau- und sortenrein trennbar.
Detail, M 1 : 33 1/3
1 Dachaufbau
Extensive Dachbegrünung
Bitumendachbahn, 2-lagig
PU-Hartschaum Dämmplatten
Dampfsperre
Seekieferplatte
02 Wandaufbau (Aufstockung)
Mineralischer Außenputz
Holzfaserdämmplatte
Holzfaserdämmplatte im Holzrahmenbau
OSB3 Platte
Lehmbauplatte
Lehmputz
03 Wandaufbau (Bestandsertüchtigung)
Mineralischer Außenputz
Mineralische Dämmung
Mauerwerk (Bestand)
Innenputz (Bestand)
04 Fußbodenaufbau
Flügelgeglätteter Zementestrich
Trennschicht
Trittschalldämmung
OSB Platte
Mineralische Dämmung zw. Lagerhölzern
Aufbeton (Bestand)
Stahlbetonrippendecke (Bestand)
06 BSH Hauptträger 240/480 mm, Fichte
06 KVH Nebenträger 80/120 mm, Fichte
07 KVH Randbalken 100/120 mm, Fichte
08 Attikaverblechung
09 Holzfenster, 3-fach Verglasung
10 Alu-Fenster (Bestand)
11 Gitterrostboden, Maschenweite 20/20 mm
12 U-140 Stahlprofil
13 U-200 Stahlprofil
14 Quadratrohr 120/5 mm
15 Stahlpfosten 50/50/5 mm
16 Wellengitter
17 Winkelstahl 30/30/4 mm
18 Stahlbeton Ringbalken
Ein menschliches Maß entwicklen
„Das Büro-, Atelier- und Wohngebäude in der Neckarhofstraße zeigt schon sehr gut, wie wir uns die weitere Entwicklung des Bestands vorstellen“, fasst Frank Schönert zusammen. „In erster Linie geht es darum, Platz und Infrastruktur für kommende Entwicklungen zu schaffen und dabei soviel historische Substanz wie möglich zu erhalten.“ Das sei nicht gerade einfach, da die verschiedenen Gebäude aus ganz unterschiedlichen Epochen stammen und vom gründerzeitlichen Mauerwerk bis zum modernen Stahlbeton so ziemlich alles verbaut sei, was der Werkzeugkasten hergibt. Vor allem bei den eingegrabenen Lagerhallen werde es im nächsten Schritt darum gehen, ihnen eine menschliche Infrastruktur zu geben – lediglich zwei Treppenhäuser erschließen bislang die rund 35 000 m² großen Hallen, in die größtenteils kein Tageslicht dringt. Eine Aufteilung in vier Quadranten sollen im kommendem Jahr Platz für unterschiedliche Akteur:innen der Kultur- und Kreativwirtschaft schaffen.
Explosionszeichnung Bestand und Ergänzung
Das große Glück bei diesem Projekt sei, so Frank Schönert, dass die Eigentümerin keine profitorientierten Ziele verfolge, im Gegenteil: „Ziel der Arealübernahme war es, eine der großen Industriebrachen in Neukölln zu sichern, sie langfristig für soziale, kreative und ökologische Nutzungen zur Verfügung zu stellen und so der Spekulation zu entziehen.“ Drei Parteien haben bereits Erbbaurechte mit einer Laufzeit von 99 Jahren übertragen bekommen – auf deren Grundlage sei die langfristige Entwicklung des Areals ohne den Druck einer baldigen Amortisierung der Investitionen überhaupt erst möglich geworden.
Abriss, das ist für Frank Schönert ein Modell von gestern. Deshalb gehört er auch zu den Unterzeichner:innen des Abrissmoratoriums, das vor Kurzem der Bundesbauministerin Klara Geywitz übergeben wurde. „Wir müssen lernen mit dem, was wir haben, besser umzugehen. Nur so können wir künftig den immensen Ressourcen- und Flächenverbrauch unserer Branche auf ein verantwortbares Maß reduzieren.“ Dass dieser Weg gangbar ist, zeigen nicht zuletzt die zahlreichen Konversionen von ehemaligen Brauereien, die in Berliner bereits gelungen sind – von der Willner-Brauerei in Pankow über die Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg bis hin zur Bärenquell-Brauerei in Schöneweide, die nach mehr als 25 Jahren Leerstand nun auch endlich entwickelt wird. Tatsächlich geht Hütten & Paläste jedoch mit dem adaptiven Raumkonzept, der sozialen Ausrichtung des Projekts sowie der vollständigen Recyclierbarkeit seiner Ergänzungen bislang am konsequentesten den Weg, das Bauen im Bestand als zukunftsträchtige Disziplin der Architektur zu etablieren. Auch wenn dieses Pflänzchen noch klein ist, steht es für großen Landgewinn.
Hütten & Paläste Architektur
Nanni Grau und Frank Schönert
www.huettenundpalaeste.de
Konsequent einfach – die Beschränkung auf die wesentlichen Notwendigkeiten der neuen Nutzung ist ästhetisches Programm und zeugt von einem bewussten Umgang mit dem Thema endlicher Ressourcen.« DBZ Heftpartner:innen
planinghaus architekten BDA, Darmstadt
Projektdaten
Objekt: Neckarhofgebäude, Berlin-Neukölln
Standort: Neckarstraße 19, 12053 Berlin
Typologie: Wohn- und Gewerbebau
Bauherr/Bauherrin: Stiftung Edith Maryon, www.maryon.ch
Nutzer/Nutzerin: Terra Libra Immoblien GmbH, Demeter e.V.
Architektur: Hütten & Paläste
www.huettenundpalaeste.de
Team: Christian Geyer, Anders Peacock, Franziska Heidecker, Sophia Albrecht, Jene van den Abeele, Frank Schönert, Nanni Grau
Bauleitung: Hütten & Paläste
Bauzeit: 09.2020 – 08.2021
Grundstücksgröße: 855 m²
Grundflächenzahl: 0,41
Geschossflächenzahl: 1,34
Nutzfläche gesamt: 929 m²
Nutzfläche: 749 m²
Technikfläche: 9 m²
Verkehrsfläche: 171 m²
Brutto-Grundfläche: 1 144 m²
Brutto-Rauminhalt: 4 163 m³
Baukosten (nach DIN 276):
Gesamt brutto: 1 312 150 €
(KG 300 und 400)
(KG 600 = 150 259 €)
Hauptnutzfläche: 1 412 €/m²
(KG 300 und 400)
Brutto-Rauminhalt: 315 €/m³
(KG 300 und 400)
Fachplanung
Tragwerksplanung: Büro Rüdiger, Marksburgstraße 51, 10318 Berlin
TGA-Planung: i.net ENERGIE,
www.i-net.ag
Lichtplanung: AIL Architektur im Licht, www.architekturimlicht.de
Innenarchitektur: Hütten & Paläste
Akustik: Akustikbüro K5 GmbH, www.k5-akustik.de
Energieberatung: Schiller engineering, www.ib-schiller.de
Brandschutz: ZRS Architekten Ingenieure, www.zrs.berlin/de/
Brandschutzprüfer: CDI Ingenieure, www.cdi-ingenieure.de
Aufzug: Ing. – Büro Wieczorreck, www.ingbuero-wieczorreck.de
Stahlbau Balkonanlage: ERTL und ZULL, www.ertlundzull.de
Hersteller
Beleuchtung: Planlicht, Planlicht.com
Bodenbeläge: Weber Flloor,
www.de.weber
Türdrücker: FSB 1147, www.fsb.d
Innenwände/Trockenbau: KNAUF, www.knauf.de
Sanitär: Gebertit Renova Plan
Wärmedämmung: Steico,
www.steico.com
Lehmbauplatten: Lemix,
www.Lemix.eu
Lehmputz: Levita, www.Lehm.com
Kratzputz Fassade: Weber,
www.de.weber